Samstag, 9. Juni 2012

F-20 DREIMAL SIEBEN IST JOT

(Hommage à Ernst Jandl)
I

1 Am Anfang sitzt Jot da, auf einem ein-
2 fachen Sessel, steht auf, setzt sich
3 wieder in Jot-Form, rasselt ohne
4 Verbeugung seine Biografie runter, baut
5 einen unsichtbaren Baum auf, mit Kirschen
6 und Affen, lustiglustig, enthüllt sich
7 gelassen vor der schwarzen Tiefe.

II

1 Jot spricht aus Angst vor Subjektivität,
2 aus Hoffnung auf Objektivität, sagt Jot,
3 nur in der dritten Person, verwende
4 stets nur den Konjunktiv, breit lächelnd
5 oder mit starrem, glänzendem Blick
6 aus der nahezu randlosen Brille
7 auf einen fernen vierten Sessel,
8 der über der Situation thront.

III

1 Jot lispelt schreiend oder schreit
2 lispelnd, sagt er, und Luise, seine Mutter,
3 komme aus dem Grab, eilig, fülle
4 seine Zeilen, seine vorsichtig mit Whisky
5 oder Schlafpulvern zerstörten Zellen
6 mit Wörtern: er werde
7 Text, auf dem weißen Blatt Papier,
8 bekomme Kontur aus der dunklen
9 gleichgültigen Alltäglichkeit.

IV

1 Jot braucht, um vorwärtszukommen
2 einen Reim, sagt Jot, irgendwo, der zufällig
3 erscheine, o Gott, oder eine Zahl,
4 die sich festfresse, ihm keine andere Wahl
5 lasse, oder zumindest den schwarzen schüchternen
6 Beifall der Ein, Lebens-Freundin auf Zeit,
7 den beharrlichen Hinweis auf die Klassizität
8 seiner Liebes- und Eßkultur, seines neuesten
9 Einfalls, die längst fällige Entdeckung eines weißen
10 Flecks, unübertrefflich originell.

V

1 Plötzlich hat Jot die zunehmende Strophe
2 erfunden, sein Mond-Prinzip, sagt er, das er gleich
3 wieder umkehrt, ohne die Anfangsbuchstaben der Wörter
4 wechseln zu müssen, rinks und lechts: so
5 bleibe er immerdar in der Mitte
6 der Straße, der Zeit, inmitten der Situation,
7 Mittelpunkt der Beziehung, sei aber zugleich auch
8 abwesend, was ihn beruhige, Sprech-Blase,
9 fern von allem, in autoritärer Unschärfe.

VI

1 Deshalb zählt Jot, sagt Jot, höchstens bis drei: höflich
2 bezichtige er sich des wiederholten Versuchs,
3 sich abzuschaffen, höflich demonstriere er
4 immer wieder seine unabwendbare Verzweiflung, sein Nonsens-
5 Konsens-Leben, eingezwängt zwischen Grammatik und
6 höhnischer Herz-Dramatik: nur mit dem Fallbeil
7 des Zynismus, der Kreissäge des Selbstzweifels
8 schneid er sich zeitweis aus dem Teufelskreis raus.

VII

1 Zum Schluß wieder allein, zeigt uns Jot,
2 wie sich seine Sprache festigt, sein Ich sich auflöst
3 im Einschlafzeremoniell: in Betrachtung von Polster
4 und Tuchent, sagt Jot, streiche er das Laken glatt,
5 aufnahmebereit für seinen Nachtschweiß, sein Hin-
6 und Herwälzen, Hinauszögern, sein Fluchen über das Läuten
7 des Weckers am Morgen, trotz allem ein sehr leiser Laut.

(1981)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

Juni 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 1 
 2 
 4 
 6 
 8 
10
11
13
15
16
18
20
21
23
24
25
27
29
30
 
 

Suche

 

Status

Online seit 4846 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren