Donnerstag, 25. Oktober 2012

DB-007 3 (Im Coupé neben mir)

3

Im Coupé neben mir, fast unsichtbar in der sausenden Dunkelheit, ein völlig verschlossener, scheinbar haut- und knochenloser Stefan. Und ein Vater, der mich aus den Träumen heraus bedroht, weshalb ich (gewöhnlich doch lärmunempfindlich und schlaffähig in jeder Stellung) zerschlagen und grübelnd aufwache, schon im andern Land, dem Land Oskars, meines Onkels, dessen Wieder-Sehen, Wieder-Erkennen der Mit- oder Hauptzweck dieser Reise sein könnte. Du, meine mich überallhin verfolgende Mitwisserin, die ich immer mit mir herumtrage als Korrekturstimme und Inbild meiner Empfindungen, nur du weißt, wie sehr der Vaterbruder in mir lebt als ein wegweisender, mich vom Tod abhaltender Geschichtsüberlebender. Er hat meine Jugendrasereien überlebt, als milder, von Herzen liebender Freund, Vaterersatz, auch Bettgespiel.

Wärst du hier, würdest du mich jetzt trösten müssen, bedeutungslos machen diese Kriegszu-ckungen vorm Fenster, die verwehten Gesichter, die Todesschreie, die wie Metallzischen klingen, die Gerippe in ihren gestreiften Anzügen, die weithin verstreuten, wimmernden Körperteile. Ich stelle mir nur dich vor, lächelnd, abwinkend: Ich sollte nicht sofort unter der Decke verschwinden, in der dunkelsten Dunkelheit mich unkenntlich machen, mich nicht definieren wollen als geruchloser Geruch. Die zusammengebissenen Zähne sollte ich aufmachen ohne Scham, sollte den vorbeihuschenden Morgen wahrnehmen, Stefan, der ächzend nach mir tappt, mich flüsternd über seine Einschlafschwierigkeiten informiert, die mir nicht unbekannten Praktiken des Schlafpulverschluckens. Ich sollte mich zur Seite drehen, mich unter seinen schlaffen Armen wie ein Fötus fühlen. Suhlen sollte ich mich an seiner Körpervorderfläche, fetzige Bilder herbeiholen, vorbeizittern lassen, vor seiner Stimme meine Ohren nicht verschließen. Ich sollte mich ihm zuwenden, seinem Schnurrbart, seinem feuchten Mund, in seinen Mund hineinhorchen, heraushorchen seine wahren Absichten, Wünsche und Gefühle.

Eigentümlicherweise spricht er über die Wohnung, die wir gerade verlassen haben: Jetzt klebe er nicht mehr so an ihr wie früher, wobei er auch da nicht wirklich gefesselt gewesen sei, sondern nur nicht gewußt habe, wohin eigentlich, was denn das andere, Bessere sein würde, da er doch jahrelang geübt habe, in dieser Wohnung, in diesem winzigen Zimmer zu leben, zu überleben.
Jetzt habe er sich an das Übersehen, Überspringen der Lebensbedingungen darin schon so gewöhnt, sei im unscharfen Blick schon so geschult, verschließe automatisch alle Poren und existiere dort nur als imprägnierter, alles abstoßender Kunststoffkörper, dem es äußerst schwerfalle, diesen Zustand unter anderen Umständen zu ändern, weshalb er jeden Ortswechsel als Vorankündigung einer Bedrohung empfinde, obwohl doch eigentlich umgekehrt die Fixierung an diesen Ort die wahre Bedrohung darstelle. Einerseits sein Ekel vor dem gewöhnlichen Schrecken, der Banalität dieses Schreckens; andererseits dieser vertrackte Widerstand gegen jede Veränderung, wenn auch nur auf Zeit, der doch jede kleine Chance auf einen neuen Impuls verhindere, auf eine neue Schminke des altbekannten Schreckens.

Trotzdem kein schlechter Befund, betont er, obwohl ihm nicht einmal das Auftauchen Josefs seine Abfahrt erleichtert hätte. Schlimm sei auf jeden Fall diese völlige Ungewißheit, der Umstand, daß er jetzt weder wisse, ob Josef überhaupt weggefahren sei, ob er unterwegs aufgrund der Witterungsverhältnisse aufgehalten wurde oder nur zu spät in Wien eingetroffen ist. Vielleicht habe er es einfach nur abgelehnt, sich auf eine Hetzjagd zum Bahnhof zur Beruhigung Stefans einzulassen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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