Mittwoch, 14. November 2012

DB-025 10 (Irgendwann wacht Stefan auf)

10

Irgendwann wacht Stefan auf, hört Lena neben sich atmen, kommt nicht klar, Fleischfetzen, Mehlreste, Blutspritzer, jemand hat etwas gesagt, aber wer?, mit welcher Stimme?, und Lenas Atem ist kein Schlafatem, vielleicht also sie?, Lena bewegt sich, sucht die Uhr, drückt einen Knopf hinein, um das Zifferblatt zu beleuchten, aber die Batterie ist leer, sie tastet nach der Nachttischlampe und knipst sie an: 4.11 Uhr, das Licht erlischt sofort wieder, Stefan spürt Lenas Hände, er hält einen Moment erschrocken den Atem an, Oskar tastet nach ihm mit schleimigen Händen, Lenas Schleim an seinen Händen, sie hat ihn ausgestoßen, und Oskar jammert wie ein Kind, erstaunlicherweise über Zensur, daß die Briefzensur hier die westlichen Meinungsumfragen ersetze, jemand lacht, Lena schmiegt sich an Stefans Rücken, wer hat gelacht?, ihre Hände fahren seine Hüften entlang, die Briefzensur ist computerisiert, Oskar lacht, Eifersucht schnürt Stefan den Hals zusammen, Stichwörter, und du erhältst die neueste Stimmung im Osten ausgedruckt, Stefan fröstelt, zieht sich die Tuchent über die Schultern, Lenas Hände stoßen zu seinem Bauch vor, Stefan atmet aus und dreht sich Lena mit einem Ruck zu, ihre Finger kreisen seinen Nabel ein, Erektion, er stützt sich auf seine Ellbogen, um sich über Lena beugen zu können, die ihm sofort den Adamsapfel abschleckt, den Unterleib entgegenreckt, sodaß er Oskar wegstößt, da in die weichen, samtenen, pulsierenden Höhlungen hineinfällt, emporgehoben wird, sich darin verknäuelt, verknäueln läßt, Lenas Unterleib schnalzt und schmatzt, Oskar zeigt sich voller Würmer, zerfressen, mehlig, blutig, verschimmelt, ein verwest glitzernder Leib, der sich in der hintersten Ecke, unter den Kohlen in der Küche mit dem Kohlenstaub mischt, und jetzt schiebt sich das Bild Julias vor das dieser Frau, der Körperteile dieser Frau, die sich da um ihn herum bewegen, ihn umkreisen und zum Selberkreisen bringen, die kreisenden, pulsierenden Körperteile unter ihm setzen sich zur blassen Gestalt Julias zusammen, der schwarze Kopf Lenas erhält das flimmernde Gesicht Julias, und Stefan hört ihre Stimme, hauchdünn: Der Ku-uß, der Ku-uß, er hört Lenas stoßweises Atmen, und darüber, in Obertönen: Der Ku-uß, der Ku-uß, während Lena, immer eindringlicher flüsternd, den Bettspalt vermeiden will, bis Stefan endlich begreift, ihren Schlangenbewegungen folgt, sich an sie klammernd, damit er sie nicht verliert, sie nicht ihn, damit er ihr, von oben, in den ihm entgegengestreckten Spalt zwischen den zusammengepreßten Beinen stoßen kann, aber Lena führt ihn, und er läßt sich führen, er nützt ihre Führung zur Entspannung, entspannt in den Armmuskeln, Rückenmuskeln, die Haut übers Fleisch auf den Knochen gespannt, mit aufgestellten Härchen, so neben ihr, gekrümmt, aber mit befreiten Händen kann er diese verzweifelten Kreiselbewegungen durchfuhren, als Ertrinkender, als einer, der sich der Oberfläche dieses mit ihm ringenden Körpers vergewissert, einer, der sich ganz gegenwärtig fühlen will, untergehen in den Bewegungen innen und außen, trotzdem den Kampf gegen die Gegenstände im Kopf durchstehen muß, die sich nicht befehlen lassen, ihr Eigenleben führen, sodaß er plötzlich wieder mitten in der verlogenen Abschiedsszene von Julia steckt, wo er eine Stimme wie die seine hört, die sagt: Der schmeckt, was sich aber nicht auf den Kuchen beziehen kann, der ja zäh und klebrig war und voller Backpulvergeschmack, sondern nur bedeuten kann, daß Stefan sich in Julias Kopf mit einer Zweideutigkeit festsetzen wollte: Julia, zu ihm strahlend aufblickend, hat gefragt: Der Ku-uß?, doch während Stefan darüber in ein Grübeln zu verfallen droht und sich an eine einladende Miene zu erinnern glaubt, fragt jemand mit deutlicher Stimme: Schläfst du?, will ihn an seine reale Situation erinnern, und er sagt: Nein, aber da ist diese schwere, bleischwere Vorlust, die in seinem Kopf wütet, zugleich das Kribbeln unter der Vorhaut, Wasserblase, die kalt und warm ist, die sein Ding zu einem Ballon aufbläst, an dem er hängt, winzig, abhebt von der Erde, ohne Angst, ohne Schmerz, enthoben, es ist vollbracht, und siehe, das Dreieckige Auge inmitten der Stirn dieser Frau, zweifellos Lena, die ihre Zunge herausschnellen läßt wie ein Chamäleon, klebrig, eine Sinnestäuschung, inmitten dieser fleischfressenden Pflanzen, röhrenden Echsen, knapp unter sich verführerisch feuchtklebrige Tropfen, Glitzern, kalter Schauer, Wolkenbruch, der Ballon schrumpft, sinken, fast übel, Raketen, die Nacht taghell ausleuchtend, Erdreich wie im Krieg, rasend schnell näher kommend etwas wie Granattrichter, offene Särge, Hain der erstarrten Toten - aufklatschen, schweißnaß, Hecheln, es dringt in Stefans Ohren, er spürt seinen wirklichen Schweiß auf seiner wirklichen Haut, seine wirklichen schweißnassen Arme, die Lena an sich pressen, bis sie sich entspannt, dehnt, aus allen Poren dampft und stöhnt, hinaus in die zitternde Dunkelheit, in den vorbeirauschenden Zug, hinter dessen Fenster schlaftrunkene Arbeiter hocken, keine Zensur, bei mir nicht, Stefan spürt, er hält durch, er saust, rattert im Rhythmus des Zuges, bis weder Oskar noch Julia ihn bedrängen, nur das Geschrei Lenas, der Schrei, der wie eine Explosion über ihm lastet und er seinen Samen hineinschießt, Versöhnung kurzfristig, distanzlos ohne jede Bedingung mit dem Kind, das er in diesem Moment zeugen könnte, dem Bastard, der schöner und erfolgreicher sein würde als er, ein Kind Julias von ihrem Vater Oskar, nicht eines von Stefan und Lena, aber es wird nicht gezeugt.

Lena sinkt weg, übergangslos in den Schlaf, während Stefan ihren Daumen zwischen seine Hand nimmt und sichs so bequem neben ihr machen will, für eine Weile, fallsjetzt nicht gleich der übliche Kopfschmerz kommt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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