Dienstag, 27. November 2012

DB-031 13 (Unsere Wege trennen sich)

13

Unsere Wege trennen sich, finden zusammen, trennen sich wieder. Der Alexanderplatz ist so groß, von einer solch offenen Weite, daß zwei wie wir einander nicht einmal wie Pünktchen am anderen Ende wahrnehmen können. Ich will Bücher und Schallplatten für meinen Vater besorgen. Natürlich will Stefan auch hier sich nicht anstellen. Es ist mir nur recht: Wegen meiner aufgesparten Explosion wäre sowieso kein gütliches Auskommen mit mir.

Während ich fröstelnd, eingereiht in die auf einen Plastikkorb Wartenden, vor der Buchhandlung stehe und den schnell dahinjagenden Schneewolken nachschaue, erinnere ich mich an Stefans ungläubige Augen, damals auf dem Weg zu Oskars Wohnung. Dorthin schleppte ich ihn mit, nachdem wir miteinander beim Fotografen in der Gegend der Station Jannowitzbrücke, wo wir die Bildstreifen für ein CSSR-Durchreisevisum abholten, bekanntgeworden waren.

Er kam mir zuliebe bereits zum dritten Mal von Westberlin herüber, tappte lachend neben mir her, sichtlich anlehnungsbedürftig, verliebt, und konnte noch immer nicht fassen, daß er hier auf eine Genossin aus Wien gestoßen war, die überdies höchst auffällig ihr Interesse an ihm zeigte.

Auf einmal irritierte mich etwas. Und es war wie immer in einer solchen Situation: Plötzlich stockt mir der Atem, das Blut steigt mir ins Gesicht, aber ich fühle mich nicht. Und dieser lächelnde, molluskenhafte Stefan ist schutzlos dem geifernden Ausbruch dieser lächerlich erregten Lena ausgeliefert, die ihn eines Vergehens, das mit ihm nichts zu tun hat, bezichtigt, ihm erbarmungslos ihre Vorwürfe um die Ohren schlägt, dem Zwang der Wiederholung nicht widerstehen kann, sich zugleich vor einer neuerlichen Liebesniederlage auf das heftigste fürchtend.

Vielleicht will sie nur einer Demütigung zuvorkommen. Vielleicht will sie sich nur nicht verstellen müssen, um sich eine längere Dauer der Zuneigung zu erkaufen.

Lena liebt sich nicht, Lena will nicht geliebt werden, Lena will den Verpflichtungen einer neuen Liebe entgehen. Lena will den potentiellen Liebhaber auf die Probe stellen, wie sie ihr Vater immer wieder auf die Probe gestellt hat.

Obwohl Lena so frei ist, sich hier viel freier als in Wien zu fühlen, siehst du sie jetzt aufgerissen, niedergeschmettert von der Macht ihrer Gefühle. Du mußt sie als Marionette begreifen, die einem hampelmännischen Spiel ausgeliefert ist, weshalb sie sich selbst im Moment nur abgrundtief hassen kann.

In ihrer persönlichen Mythologie hat sie dafür einen Fixpunkt: den Gang mit dem Vater über die Reichsbrücke in Wien, wo sich ihr mit einem Schlag alles bis dahin nur dumpf Geahnte, unter dem sie schon immer gelitten hat, zu einer bitter einleuchtenden Erkenntnis verdichtet.

Sie tritt nun als beinahe Dreizehnjährige vor dich. Du entdeckst sie mit ihrem Vater im Hof einer städtischen Wohnhausanlage jenseits der Donau am Beginn ihres Sonntagsausflugs, diesmal ohne Mutter und Bruder.

Beim Leopoldsberg angelangt, steigen sie rasch hinauf, beinahe im gleichen Tempo, sie stumm, während ihr Vater auf sie einredet, Thema Schule, wozu sie nichts zu sagen hat. Vor knapp zwei Monaten hat die dritte Klasse begonnen, aber Lena hat den Schock des Übertritts von der Volksschule ins Gymnasium, weg vom Schoß ihrer über alles geliebten Lehrerin, noch immer nicht überwunden.

Oben auf dem Plateau des Bergs hält ihr Vater kurz an, um sie (zum wievielten Mal?) auf die Vorzüge der Lage der Stadt Wien hinzuweisen und sich dann gleich an den Abstieg zu machen, wobei er ihr eindringlich ans Herz legt, wieder mit ihm zu lernen. (Ich habe diese väterlichen Nachhilfestunden, den Schrecken dieser Stunden dir gegenüber ja schon mehrmals erwähnt.)

Lenas Konzentrationsschwierigkeiten, wie sie in der Schule häufig aufgetreten sind, verschlimmern sich in der sie bedrängenden Gegenwart ihres Vaters.
Da muß sie gähnen, gähnend zum Fenster hinschauen, worauf ihr Vater sofort in Zorn gerät und sie anbrüllt. Er trägt den Schulstoff mit der furchtbaren Unbedingtheit eines Lehrers vor, was Lenas guten Willen sofort verscheucht.

Du hörst die triefende Pädagogik in seiner Stimme; zugleich hörst du andere Stimmen, süße, die möglichen Obertöne, die Intonation eines Versprechens, dessen Erfüllung noch in der Zukunft verborgen war. Du hörst Lena ihm hundertmal schwören, sie werde ihre Ohren aufsperren, alles willig aufnehmen und sofort zu verstehen.

Zugleich erkennst du ihre ungenauen, unerfüllbaren Sehnsüchte, die Erinnerungen an die Hofspiele, die das Mistkübelhäuschen in ein Schloß verwandeln oder in eine Räuberhöhle, die Klopfstange in ein Sofa oder in einen reißenden Fluß, durch den die schöne Lena von ihrer besten Hoffreundin getragen werden muß, der Heldin, die sie, ohne zu zögern, aus allen brenzligen Situationen befreit.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

November 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 5 
15
21
23
25
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 4841 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren