Donnerstag, 13. Dezember 2012

F-25 KURZBIOGRAFIE

für Susanne

Empfangen und aus-
getragen im Namen der Resistance,
zur Welt gekommen in einem Hotel,
durchgefüttert zur Tarnung
in faschistisch geführten Kinderheimen,
nur französisch sprechend wie die als einheimisch
geltende Mutter, zu der, ein völlig Fremder,
der Vater manchmal einsteigt, nachts,
bald wieder flüchtet, beim Morgengrauen
schon unterwegs mit schnell wechselnder
Identität in Sachen Wehrkraftzersetzung.

Und dann, nach dem Krieg, nach der Ankunft
in Wien, hat sie scheinbar das alles
mühelos vergessen, wächst auf
wie ihre Mitschülerinnen in Kaisermühlen,
im akademischen Gymnasium, in völliger
Unwissenheit, assimiliert
von den Ängsten der Eltern. Erst mit dreizehn,
im Jahr 1955, als die letzten Befreier
das Land verlassen, an einem kahlen
Herbsttag der Gang mit dem Vater
über die Reichsbrücke: seine vorsichtigen
Hinweise, Fotos aus dem Gelben Stern,
Fragmente der viel zu nahen
Vergangenheit, die unfaßliche Bilanz:
Großonkel und Großtante väterlicherseits
vergast in Auschwitz,
zwei Onkel väterlicherseits
vergast in Auschwitz,
die acht Brüder des Großvaters mütterlicherseits
vergast in Auschwitz,
deren Frauen, Kinder und Enkelkinder
vergast in Auschwitz.

Die Antwort der beinahe Nachgeborenen:
verschwommener Stolz
auf den verschwiegenen Makel
des Andersseins, Schwärmen
vom sogenannten Land der Verheißung.
Immer schwerer wird ihr die Last
des Vaterlebens auf den Schultern, immer
durchdringender die Verfolgung
durch sein Verfolgtsein:
Rassengesetze Emigration plombierter
Zug Lager Razzien Gestapo Flucht;
seine lebensrettende Arbeit
in der Illegalität, seine ständig
todbedrohte Existenz: das hat sie ihm jetzt
abnehmen müssen, damit er endlich
ein anderer wird - ohne
Mohn und Gedächtnis.

Schließlich, nach der Matura,
entkommt sie zu den Verwandten in Paris,
London, New York, reist ruhelos
von einem zum andern, den überlebenden
Vaterbrüdern, die sie verzweifelt
liebt: Rettung vorm so oft verschobenen
Selbstmord, den ihr barmherzig
Jean Améry auf immer abnimmt.

Doch erst nach zwanzig Jahren
die Rückkehr, die teure Analyse,
die aufkeimende Selbstbehauptung,
die Entdeckung der weiblichen Stärke:
ihre vorsichtige Freude
beim Gedanken an ein eigenes Kind,
skrupellos empfangen und aus-
getragen im Namen der neuen
Zuversicht des noch lebenden Vaters.

(1980)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

(Blick zum Nachbarn: B-02 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

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