Sonntag, 19. Mai 2013

FL-20 Fliege (Notizen)

Summen 1

In einer Rezension zur Brodsky-Anthologie wird „Fliege", ein „in ausdauernder Beobachtung dahinsummendes Strophenwerk“ genannt, „das über das Ableben eines Brummers philosophiert“. Summen, brummen. Oder: Summen brummen! Brummendes Summen, summendes Brummen.

Keine Verwirrung – „summen"/„Summen“ ist nur ein einfaches Homonym: das Verb „summen" und der Plural von „Summe". Nur im Plural ist es auch homophon. „Summen" ist onomatopoetisch und hat schon im Mittelhochdeutschen so gelautet. „Summe" hingegen leitet sich vom lat. summa ab, höchste Stelle, höchste Zahl (da von unten nach oben zusammengezählt wurde), Gesamtheit, Betrag, Menge, Inbegriff, und ist das substantivierte Femininum von lat. summus, der Höchste, Äußerste, Größte, Vollkommenste. So bringt die Lautlichkeit Begriffe zusammen, die in der Realität nichts miteinander zu tun haben. Doch im Vergleich zum Chinesischen sind homonyme Wörter im Deutschen relativ selten.

Die lautliche Mehrdeutigkeit kann einen jedoch auch im Zusammenhang mit Fehlschlüssen beschäftigen. Einmal nicht aufgepaßt, nicht genau hingehört – schon ist eine fallacia ambiguitatis passiert, ein Fehlschluß der Mehrdeutigkeit!

Hierzu: Summen summen! Mehr gibt’s nicht! Summende Summen? Wo denn, im Kopf? Ja, der Kopf summt, ist voller summender Bienen. Bienen sind mir in diesem Zusammenhang näher als Fliegen. Die summen auch, aber vielleicht summe ich. Vielleicht bin ich die Summe des eigenen Summens? Ist mein Summen für mich hörbar?

Ja, ganz einfach: wenn ich alle Eigengeräusche zu einem Summen zusammenfassen wollte oder sie sich als Summen bezeichnen ließen. Ist das, was ich höre, die Summe der Eigengeräusche? Lassen sich die Eigengeräusche nicht immer auseinanderdividieren?

Im Moment höre ich ein Außen- und ein Innengeräusch. Von draußen das des Lüfters; von innen kein Summen, sondern ein Sirren, ein mir wohlbekanntes Geräusch, das sich bei Bewegung des Kopfes kurz senkt, vermengt mit Knacksen und Knirschen im Nacken.

Außerdem bin ich voller Aufmerksamkeit gegenüber Geräuschen. Sozusagen mit den gespitzten Ohren angespannt lauschend. Noch etwas? Ja, das Tippgeräusch. Es ist das dritte, das sich jetzt einblendet, und je nach Buchstabentaste verschieden. Der Anschlag der Zwischenraumtaste klingt hart und geradezu endgültig.

Jetzt habe ich doch geseufzt und kurz – und ohne daran zu denken – die Luft ausgestoßen. Birgit hat angerufen und angekündigt, sie werde vorbeikommen, um sich Gilmore Girls anzusehen. War das der Grund?

Ich bleibe beim Thema: zwischen Außen und Innen in der Aufmerksamkeit hin- und herzupendeln, erscheint mir so, als würde ich den Kopf abwechselnd nach links und nach rechts drehen. Links steht der Computer, das rechte Ohr sirrt. Um das zu überprüfen, stecke ich beide Zeigefinger zugleich in die Ohren. Je stärker ich die Fingerspitzen hineindrücke, desto gleichmäßiger wird das Sirren auf beiden Seiten. Damit verbindet sich aber ein dunkles insistierendes Rotieren im Hintergrund, als gäbe das drinnen einen Propeller.

(20. Dezember 2006, 08:51)

Zu „Fliege. Roman eines Augenblicks“ (Edition Korrespondenzen, 2010). Mehr hier, hier und hier.

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

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