0066 (5,6) - JUBLILÄUMSWARTE

5

die menschenfresser werden in flaktürmen aufbewahrt. die menschenfresser sitzen hinter schloß und riegel, hinter gittern, hinter feuchten betonwänden. die menschenfresser können nur ihre eigene gefühls- und ausscheidungsluft fressen. die menschenfresser fressen menschen mit dem mund, was sie jetzt nicht können, mit den augen, ohren, mit dem hirn, den herzen, was sie jetzt jederzeit können, selbst im traum. am meisten zugerichtet seien natürlich die wärter. die merken es nicht, auch nicht ihre kinder, wenn sie ihnen zuhören, wenn ihnen die väter von ihrer arbeit erzählen. nur die kinder sind froh darüber, daß es menschenfresser gibt. ihre vorstellung, die realität ihrer vorstellung erzeuge eine solch angenehme angst, ein solch angenehmes, ja notwendiges gruseln. bis in ihre kinderzimmer könne man die menschenfresser schnarchen hören, sagen die kinder. es sei einer der gefährlichsten berufe, sagen die wärter, eine falsche bewegung, ein falscher handgriff, ein falsches wort (obwohl ihnen ja das sprechen verboten ist), ja sogar ein falscher gedanke, ein falsches gefühl in ihrer nähe könne todbringend sein. den tod brächten aber nicht die menschenfresser, die ja hinter schloß und riegel etc., sondern die vorgesetzte behörde, deren verhaltensvorschriften für wärter von menschenfressern ein so ausgeklügeltes system von verboten darstelle, daß es beinahe unmöglich sei, binnen eines jahres nicht angeklagt zu werden, ja sogar binnen kürzerer zeit. natürlich, notgedrungen gebe es begnadigungen, sogar am laufenden band, aber gerade das sei das gefährlichste: man rechne damit, man gewöhne sich daran, mit begnadigungen zu rechnen, und dann bleibt sie einmal aus. nach solchen schilderungen, sagt der student, wachse das leben der wärter und natürlich auch das leben der menschenfresser, welches eine das andere bedingt bzw. vertilgt, es wachse den wärtern ihr leben über den kopf, sie wüßten dann nicht, wo ihnen der kopf steht, jedenfalls in den augen der kinder, sagt der student, bist du auch ein kind, fragt der student seine begleiterin, natürlich bist du eins, jubiläumswarte, in den augen der kinder wachsen ihre wärterväter ins unermeßliche

6

ihr weißkaltes traumland aus einer gewissen höhe zu betrachten, eine künstliche gemeinsame basis in einer gewissen höhe, eine gewisse naturgegebene luftigkeit/lustigkeit, ihr liege einiges an wendeltreppen, sie schlucke so gern beim aufstieg, sie stelle sich so gern das ohrensausen/sausen der luft während eines jähen absturzes zum beispiel von möwen vor. dann sei sie unten gestanden, habe hinaufgestarrt, habe sich dem rausch der wendeltreppe hingegeben, ihrer selbstmörderischen passion, habe schließlich den ersten fuß auf die wendeltreppe gesetzt, sagt der student, und er hinterdrein

(mittwoch, 4. bis sonntag, 8.3.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 27)
e.a.richter - 2011-05-26 15:06

Heterotopien

Auch auf "flaktürme" - als Gefängnisse für "menschenfresser"- trifft zweifelsohne Michel Foucaults Definition von Heterotopien zu: „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“

Sturznest - 2011-05-26 15:40

Heute ist das Internet das Gefängnis, oder das neue Gefängnis, denn alles andere besteht ja noch, der Witz, oder das Neue, die Leute sperren sich selber ein, Schriftsteler pöbeln wie der letzte Pöpel über Menschen, die keine Arbeit haben, wohl bekomms
e.a.richter - 2011-05-26 16:53

Um nochmals Foucault zu zitieren: "Die Heterotopien setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht. Im allgemeinen ist ein heterotopischer Platz nicht ohne weiteres zugänglich. [...] Man kann nur mit einer gewissen Erlaubnis und mit der Vollziehung gewisser Gesten eintreten. [...] Es gibt aber auch Heterotopien, die ganz nach Öffnungen aussehen, jedoch zumeist sonderbare Ausschließungen bergen. Jeder kann diese heterotopischen Plätze betreten, aber in Wahrheit ist es nur eine Illusion: man glaubt einzutreten und ist damit ausgeschlossen." Also die Frage ist: Geht man nicht freiwillig ins Netz? Und: Ist dann das Drinnensein nicht nur Illusion?
Sturznest - 2011-05-26 16:57

Dann sage ich, alles ist Illusion, auch die Kindheit kommt mir vor als hätte es sie nie gegeben, auch dass ich ihnen nun schreibe wird mir morgen vorkommen wie eine Illusion, oder irgendetwas dass man verloren, vegraben hat, nur der Tod ist keine Illusion und gerade aus dem machen wir doch eine.
e.a.richter - 2011-05-27 01:12

Nur die Dokumente beweisen Anwesenheit und Zeugenschaft. Deshalb schreibe ich auch Tagebuch. Weil ich damit erst relativ spät begonnen habe, bleibt die Kindheit "vergraben"; der einzige Ausweg: deren ständige Wieder-Erfindung.
Iris2002 - 2011-05-26 17:24

Behauptet wirklich jemand, er kapiert das???

Heterotopien sind „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ [1]- I totally doubt that!!!

e.a.richter - 2011-05-26 21:40

Nachgetragen eine ausführlichere Erläuterung:



Ich empfand "Heterotopie" als den passenden Begriff für die damals phantasierte temporäre Umfunktionierung der Flaktürme zu Gefängnissen für "menschenfresser". Es gibt diese sechs in Wien noch immer, 66 Jahre nach Kriegsende - wuchtig hochaufragend, scheinbar unzerstörbar paarig um das Zentrum herum errichtet. Mehr dazu hier.
e.a.richter - 2011-05-27 21:02



Yasumasa Morimura, Exchange of Devouring, 2004

e.a.richter - 2011-05-27 22:14



Francisco Goya, Saturn devouring his son, ca. 1819

e.a.richter - 2011-06-05 22:19

Nachtrag zu Flaktürme in Wien

Faktum Flakturm Bildergalerie (424 Fotos!)

Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/0066-56-jublilaeumswarte/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

Mai 2011
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 4842 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren