0025 - DIE ANDERE SEITE DES KÖRPERS

die andere seite des körpers
ist ein endlos dunkles höhlengewirr
ist ein kalksteingebirg unbestiegen

die andere seite hält sich für alle
befremdungen bereit ist kühl & mädchenhaft
matrosengesichtig & ohne harm

die andere seite nähert sich nicht
geht nicht weg sie sticht streitet
um existenz & ist doch nicht angreifbar

(13.8.1968)
elke66 - 2011-02-28 13:23

Was mir durch den Kopf geht, ist die Frage, wie Sie zu Ihren Gedichten stehen, zu Gedichten, die vor über 40 Jahren geschrieben worden sind. Ich hatte im letzten Jahr das Glück eine Lesung mit Péter Nádas besuchen zu können, die Veranstalter hatten vorgesehen, er sollte aus "die Bibel", einem Erzählband von 1967 lesen und da saß nun Péter Nádas an diesem Abend und sagte: Ich werde nicht aus diesem Buch lesen. Der das geschrieben hat, war ein junger Mann, das bin nicht mehr ich. Daran denke ich häufig, wenn ich sehe, welcher Zeitraum teilweise zwischen dem Entstehen der Gedichte und meinem Lesen heute liegt. Und dann frage ich mich, wie es Ihnen damit gehen mag.

e.a.richter - 2011-02-28 16:03

Vor einigen Monaten, lieber elke66, hatte ich plötzlich das Bedürfnis, eine chronologische Ordnung meiner Gedichte und Texte herzustellen, also Ordnung zu machen, um einen Überblick zu bekommen. Was aber auch damit zusammenhängt, daß sich meine Beziehung zur eigenen Vergangenheit geändert hat, weil ich die Zeit anders erlebe: ich kann mich jetzt kurzschließen, was früher nicht der Fall war.

Daß ich nicht mehr derjenige bin, der das damals geschrieben hat, stört mich nicht. Im Gegenteil: es ist eine gewisse Attraktion, auf diese Weise zu erfahren, wozu ich fähig war und wozu nicht, welchen Einflüssen ich unterlegen bin, auf welche Weise diese zutrage treten usw. Dazu kommt noch die Erinnerung, die sich mit einem bestimmten Datum verbinden mag, das damalige Erlebnissubstrat, die damalige Gestaltungsabsicht.

Es spielt sicher auch eine Rolle, daß ich wissen wollte, ob und wovon ich mich distanzieren muß, weil es mich etwas aus meiner jetzigen Sicht befremdet. Ich wollte mich dieser Erfahrung bewußt aussetzen, daß es für mich etwas sehr weit Zurückliegendes gibt, dessen Lektüre eine Vielfalt von Gefühlen erzeugen kann, im Rahmen von Scham, Zweifel oder auch Identifikation, und das auf dem Hintergrund des Verlangens nach Kontinuität und einer oft geforderten - auch geförderten Weiter-Entwicklung.
albannikolaiherbst - 2011-02-28 20:33

@E.A.Richter.

Geht es Ihnen nicht auch so, daß sich die Dichtungen bisweilen vom Eigenen ganz ablösen - ein Prozeß, der bisweilen auch sehr schnell gehen kann -, so daß sich die Zuordnung "das habe ich" geschrieben, nur noch als biografische Interpretation herstellen läßt? Einfach, weil man "das Faktum" weiß? Meine Erfahrung geht dahin, daß eine solche Zuordnung jenseits der biografischen Naivetät sich letztlich nicht mehr leisten läßt, nämlich dort, wo sich das Gefühl gelungener Texte (Musiken, Bilder, egal) herstellt. Diese haben - in meiner Erfahrung - oft schon, während sie noch entstehen - Momente großer Fremdheit. Sie gehen von einem weg - so, wie es auch Sätze gibt, die bereits Zitat sind, wenn man sie schreibt (schrieb Günter Steffens), ohne daß tatsächlich zitiert worden wäre.
Scham, Zweifel oder auch Identifikation entstehen, jedenfalls bei mir, immer dort, wo die Faktur fehlerhaft war und es geblieben ist. Das gilt, glaube ich unterdessen, sogar dort, nämlich verstärkt, wo das lyrische Ich sehr deutlich konturiert ist - ein anderes Ich als das unserer konkreten Biografien.
e.a.richter - 2011-03-01 03:31

@ANH

1. Ja, das ist genau der Fall: daß mich die früher anscheinend eigene Sprache befremdet. Bei mir ist es tatsächlich die Mutter-Sprache, denn mir wurde immer versichert, ich hätte zuerst nach der Schrift zu sprechen gelernt, das in dörflicher Umgebung.

In diesem Zusammenhang hat mich interessiert, nach welcher Schrift denn? Es gab in unserem Haus keine Bücher, jedenfalls nicht bis zum Schulbeginn. Vielleicht rührt von diesem Mangel an Schriftlichkeit eine gewisse Schreibmanie her bzw. – später – ein Aufzeichnungszwang von scheinbaren Alltäglichkeiten, der zwischdendurch – oft jahrelang – zurückgeschraubt worden war oder beinahe ruhend wurde, wenn das Faktische – das „wahre Leben“ – zu sehr überhand nahm.

2. Was ist das Eigene und was das Fremde? Wem gehört das eine, wem das andere? Woher kam das Fremde, wie wurde es transformiert? Und: wurde es je ein Eigenes?

Ich erlebe diese Eingemeindungsversuche von der jeweiligen Gegenwart aus als Oszillieren. Das Fremde ist nie ganz fremd; das Eigene nie ganz eigen. Es bedarf immer auch einer Definitionsanstrengung und eines Willens dazu, der sich jetzt etwa in diesem Archivierungsprojekt manifestiert, das jedoch zugleich eine Entblößung darstellt, die über die Alltagserniedrigungen und –entblößungen hinausgeht, diese aber wiederum kommunikativ relativiert.

3. Oft gibt es Momente der Fremdheit in der Sprache – etwa solche des Außer-sich-Seins, die sich in einer immer verbesserungswürdigen Faktur niederschlagen, damit aber auch die Chance zu einer konstruktiven Konturierung des lyrischen Ichs eröffnen, das dem biographischen Ich aufsitzt, ohne es zu erdrücken.

4. Ich erlebe einen Zuschuß an Leben aus der Vergangenheit, obwohl es eine fremde oder auch nur befremdliche ist. Ich suche keine Spuren, sondern Manifestationen von Augenblicken, blitzartigen oder über Monate und Jahre andauernden.

5. Seltsamerweise ist es mir derzeit nicht möglich, wie gesprochen zu schreiben. Ich liebe die atemgesteuerte gesprochene Sprache, die sich jetzt nicht einstellen will. Ich empfinde einen entstellten Rhythmus, kann diesen aber nicht korrigieren.

Erklärung: Wahrscheinlich sitzt mir noch der Schreck in den Gliedern darüber, daß die Energiesparlampe im Wohnzimmer – vielleicht eine Quecksilberdampfleuchte - funkensprühend explodierte und ich mich darauf eine Weile in der Dunkelheit eine Weile ziemlich hilflos fühlte, weil ich nicht wußte, wo ich eine Taschenlampe bzw. Zünder finden könnte.

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