DZL-02 MEIN PATTEX

mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt.
Er lebte nicht am Rand der Schizophrenie;
Schizophrenie war in unserer Familie unbekannt.

Ich hatte genug Brüder und Schwestern,
Tauf- und Firmpaten, genug im Krieg gefallene Onkel,
Onkel mit und ohne SS-Erinnerungen,

Tanten, die alles zertrennten und flugs wiederum
zusammenflickten. Ich hatte ein Matrosengewand,
ein Kochgewand, eine Professorenbrille,

einen Weinheber, Matadorsteine, Kiesel, eine Kiste
mit Riesennägeln, fünf Schlachtermesser,
eine Unzahl Besenruten auf dem Dachboden,

eine Selch zum Wundselchen von bösen Dingen.
Mein Zauberer hieß auch nicht Uhu, nicht Schuhu.
Er lebte nicht im Wald, nicht am Waldrand.

Er lebte nicht im Rauchfang, auch nicht im Brunnen.
Wenn man Wasser holte, sah man tief unten
den Himmel. Man sah immer wieder den stürzenden

Onkel, die Mauer, die auf ihn fiel. Man sah
den Schwarzen Mann, den noch niemand gesehen hatte.
Man sah den Tierarzt mit seiner Geburtszange,

den Saubären, den Schmied. Man sah die Esse,
die beschlagenen Hufe, die stampfenden Pferde, die Ziegenzotteln.
Man sah das Loch im Schuppen, aus dem in der Nacht

die Erdäpfel immer wieder heraufwanderten;
nie gaben sie Ruhe. Das war die Arbeit des Kinds: den Haufen
immer kleiner zu machen, trotz Rotz und Tränen,

und es gab kein Lob. Bei Brot und Wasser
das Heu gestopft, die Garben aufgerissen,
die Halme gedroschen, das Korn herausgeholt und gemahlen.

Mein Zauberer war namenlos, er konnte
jederzeit erscheinen, ungerufen.
Er versprach mir schnell ein höheres Alter,

mehr Muskel-, auch Einbildungskraft,
auch beim Geld- und Wissenserwerb,
eine Goldader beim Memorieren, mehr Stimmbegabung,

Standhaftigkeit in allen Lebenslagen.
Plötzlich hießen alle Zauberer Pattex und übertrafen
Vaters Perlleim, den man stundenlang

zum Kleben zwingen mußte. Mein Pattex
schob mich zwischen die Zwingen, ließ mich aber
keinen Schmerz spüren, betäubte mich mit süßen Schwaden.

Bald roch es nicht mehr nach Weihrauch.
Mein Zauberer war in mich eingedrungen.
Jeder in mir lebte am Rand der Schizophrenie

(1.4.2013)

(veröffentlicht in: KOLIK Nr. 62)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/ds/modTrackback

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Free Text (1)

Dieses Weblog wird hier archiviert.

Archiv (ab 1967)

Lyrikbände:

Der zarte Leib

Friede den Männern

Das leere Kuvert

Eurotunnel

Obachter

Schreibzimmer

Romane:

Die Berliner Entscheidung

Originalverpackt oder mit Widmung über e.a.richter(ett)gmx(punktt)at erhältlich.

„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

Aktuelle Beiträge

0126-1b A KIND OF DEPARTURE
the lady of the house speech-impaired since an incomprehensible...
e.a.richter - 2015-12-30 07:09
0126-1a AUCH EIN ABGANG
die gnädige frau sprachgestört wohnt sie seit einem...
e.a.richter - 2015-12-26 03:43
0107a - THE TEACHERS
the teachers leave the school the prettiest teacher...
e.a.richter - 2015-12-23 21:27
DT-001 FETISCH
(YVONNE) ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch, der...
e.a.richter - 2015-12-21 12:12
DZL-18 DAS BETT
das Bett, das alles verraten wollte und nichts verriet:...
e.a.richter - 2015-10-07 04:22
DZL-17 PUPPI
was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen; alle...
e.a.richter - 2015-06-02 08:44
DZL-01 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:59
DZL-02 MEIN PATTEX
mein Zauberer hieß nicht Pattex, nicht Expatt. Er lebte...
e.a.richter - 2015-05-07 13:58
DZL-03 DER ZARTE LEIB
Zartleibigkeit wird vermißt, auch intensive Zartlebigkeit....
e.a.richter - 2015-05-07 13:56
DZL-04 - ZU MEINER ZEIT
zu meiner Zeit war gar keine Zeit. Die Zeit hatte sich...
e.a.richter - 2015-05-07 13:55
DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte. Blatt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:53
DZL-07 TISCHLERPLATTE
mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte, er...
e.a.richter - 2015-05-07 13:52
DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT
sie sagt, ich bin älter als mein Vater, als er zu...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

Free Text (2)

Free Text (3)

Archiv

April 2014
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 2 
 3 
 5 
 6 
 8 
 9 
11
12
14
15
17
18
20
21
22
23
25
26
28
29
30
 
 
 
 
 

Suche

 

Status

Online seit 4845 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 2016-01-06 11:08

Credits


A Roma etc.
Das leere Kuvert
Der zarte Leib
Detonation und Idylle
Die Berliner Entscheidung
Erste Instanz
Eurotunnel
Fliege (Notizen)
Friede den Männern
Jetzt
Licht, Schatten
Namen
Obachter
Pessimismus & Erfahrung
Schreibzimmer
Stummfilmzeit
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren