Der zarte Leib

Donnerstag, 25. Dezember 2014

DZL-08 GOLD, GLANZ, HEITERKEIT

sie sagt, ich bin älter als mein Vater,
als er zu Gold wurde, womit sie vielleicht
seine Kostbarkeit meint, die er sich vorher
nicht verdient hat. Sie hat sie ihm nicht gegönnt,

nie an Glanz, Heiterkeit, Tanz und Beruhigung geglaubt,
wenn er ihr aus seiner erstaunlichen Entfernung
wieder an die Haut gerückt ist. Ihre Haut
deutlich älter geworden, die Adern herausspringend,

helle Dellen, Bluttupfen. So hat sie ihren Vater
nicht in Erinnerung. Nie kam er ihr physisch nahe,
Sie hat das aus dem Gedächtnis gelöscht.
Seine Haut auf der ihren, ihre plötzliche Einsicht:

er ist ein anderer, so nahe, so nah dem Gold.
Sie wollte seine Knochen nicht spüren, nichts
über seine Gichtfinger wissen, den Schmerz,
den er mit Mühe verdrängt hat. Gold auch die Augen,

mit denen er ihr noch immer unter die Lider schaut.
In der Dunkelheit, wenn in ihren Augen etwas
aufblitzt, sein Gold; und der goldene Laut
seiner Stimme. Vielleicht ist sein Pfeifen

noch hörbar. Vielleicht sollte sie selbst nach ihm
pfeifen, vielleicht auf ihn. Vielleicht sollte
sie nicht an seinen Nacken denken,
den sie gar nicht wahrgenommen haben will.

Jetzt denkt sie einen Augenblick an Schlachtvieh,
an dessen Tod er angeblich nicht beteiligt war.
Schweine nur aufgehängt, schon in blutleere
Hälften geteilt, und er ein fleißiger Zerfleischer.

Nie irgendetwas Blutgetränktes an ihm, immer
gewaschen ins Zimmer getreten, immer so karg
sein Dasitzen und verborgen, wenn er sich
eine Entscheidung abrang. Als Kind sieht man nur

den Schmutz auf den Schuhn, die Hosenbeine,
den Schurz, den Hut, die Schwielen auf der Hand,
die sich von selbst zu bewegen scheinen.
Der Vater als ganzer Mann erschien ihr erst viel später,

eigentlich immer aus der Entfernung, als sie schon
Stadt und Land verlassen hat. Er lud keine Schuld
auf sich, ihr auch keine auf, auch wenn sie sich
schuldig fühlen wollte und Schuld aus ihrem Wortschatz

strich. An seinem Leben nur am Rand beteiligt,
so wollte sie sich definieren: als vom Vater
völlig losgelöst, der ihr keinen Auftrag geben konnte,
wenngleich sie nur diese eine Spur vor sich hatte,

die sich nicht und nicht zeigen wollte. Es war dieses Gold,
das irgendwann durchschien, dessen erstaunliche Kostbarkeit,
die sich langsam erhärtet hat, zugleich als Mischung
von Zärtlichkeit erkannt und Weckruf

(Donnerstag, 25.12.2014, 8.17 Uhr)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Mittwoch, 10. Dezember 2014

DZL-07 TISCHLERPLATTE

mein Vater, Tischler, hatte keine Tischlerplatte,
er hatte eine Hobelbank, schließlich im Garten
abgestellt, unter dem Verschlag mit dem Pony.

Im Hintergarten gab es eine Blende aus seiner Hand
auf Wunsch der Großmutter, die beim Kochen
nicht beobachtet werden wollte vom Nachbarn.

Wobei ich jetzt gar kein klares Bild habe von einer
Tischlerplatte: er leimte Platten gar nicht zusammen,
verwendete Vollholz, Buche, Eiche, Eibe, Kirsch

für das, was er zurechtschnitt, verleimte, lackierte,
verwendete Augen, Mund, Hände und Blut,
alles für die Ewigkeit, seine eigene zumindest.

Seine hölzernen Erzeugnisse: bald aus dem Haus
geworfen, im Freien der Witterung ausgesetzt,
wie vorher die Bäume, die er selbst schlägerte

mit Augen, Mund, Händen, seinem eigenen Blut.
Betten, Kästen, Bänke, Sessel, Schemel – im Lauf
der Jahre überwuchert, morsche Wohnstatt und Nahrung

der Insekten. Das war die Tischlerplatte: was
Nachkommen verschmähten, der Hintergarten nahm
alles auf, sein Loblied auf den Holzkreislauf

(2013)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Samstag, 8. November 2014

DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN

schwierig zu lesen: Er begriff seine Geschichte.
Blatt gewählt mit einem hoch vergrößerten Foto,
drauf unscharf verbunden die Buchstaben,
ich ließ nicht locker. Das Allergewöhnlichste

ist kein Geheimnis. Das Gefühl muß ruhig sein,
Gondeln, Brunnen, Kirchen, Masken, Gemälde
müssen ruhig sein. Auftrieb ist unerwünscht,
nur ein In-die-Höhe-Sinken. Langsam aus dem Untergrund,

derselbe bleibend, aber in einem andern Raum:
weg aus der Sonne, aus dem lichtdurchlüfteten Saal
in ein sattes sämiges Dunkel, nicht ohne Schimmer.
Diese Welt ist beweglich, lässt sich leicht mitnehmen,

macht jede Wendung mit. Auf dem Bett ein kleiner
Schauer, der die Erstarrung löst. Mehr als Vergnügen
der Anblick dieses Flottierens, unabhängig
von Tages- und Nachtzeit. Licht muß da sein,

kann künstlich verstärkt werden. Genauso der Innenraum
wie die von Möwen, Schwalben, Flugzeug- und Menschenlärm
markierte Außenwelt. Er begriff seine Geschichte,
so das sichtbare Fragment, das schon zwangsweise

interpretiert worden war. Unschärfe an den Rändern.
Dunkle Einheiten im Aufsteigen, zugleich Sinken.
Alle Ordnungen präsent, ausgestellt. Gesunken,
aufgestiegen: Bett, Fenster, Tische, Kästen,

der marmorierte Steinboden, die Lämpchen, der Luster,
alle Spuren der Benutzung von schnell wechselnden
Benutzern. Er begriff seine Geschichte: im Gedanken
an alle Benutzer, nicht ohne Distanz, heimlicher Liebe

(2013)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Dienstag, 4. November 2014

DZL-05 EIN ZWEITER (ZWITTER)

unsilbig ist das Leben,
wenn Möwen und Gewittergüsse
sich im Gleichgewicht halten,
Schweigen und Stille.

Wenn Kontinuität quillt,
körnig, porös,
was immer mich kerbt.
Ich bin nicht diskret,

nur konsequent wiedererfinderisch.
Ich schramme an den Gesprächen
mit allen vorbei,
die ich gelockt und verbockt habe,

zerstückt mit Blindschlägen.
Sie warten jetzt als Dinge
hinter den blinden Mauern,
auch im blinden 4. Stock.

Hörig voller Erwartung;
nicht abgeneigt neuer Trauerarbeit.
Arbeit teilt mich in tausend Stücke,
Trauer klebt mich zusammen.

Wenn Trauer etwas verspricht,
dann Wahnlosigkeit.
Wenn Wahn alle Lose gezogen hat,
bleibt nur noch freie Wahl.

Wenn ich ein Ich bin,
dann für immer unantastbar
von mir selbst
und jedem, der mir folgt

(2013)

Freitag, 21. März 2014

DZL-01 WIR GLAUBTEN AN DAS BLUT

wir glaubten an das Blut.
Dieses Wir ist mit Vorsicht zu betrachten:
Ich glaubte an das Blut,
das in meinem rechten Auge aufgetaucht war
und nicht verschwand.
Sie glaubte an mein blutiges Auge,
auch an ihre Schwarz-Weiß-Welt,
voller Symbole, Gleichnisse und Allegorien.
Wir diskutierten nicht, wir schrieben.
Die Zeiten der Gemeinsamkeit
spalteten sich auf in einen betriebsamen Tag bei ihr,
bei mir in die übertriebene Nacht.
Sie brach sich den Arm auf der Promenade,
ich ließ mir die Linsen tauschen.
Ich beschrieb diesen Vorgang viel genauer
als sie ihren sogenannten Hinfaller am See.
Ich sah durch die Plastikaugenabdeckung
auf die Brillensammlung, die nun völlig wertlos war.
Ich glaubte an das Blut,
das jetzt aus den Augen tropfte,
auch daran, daß sie die Regentin der Blitze war,
die beim Kopfschütteln rechts und links auftraten.
Ich ließ mein Privatleben reichlich nebelumwabert,
sie projizierte langjährige Treue-Hoffnungen auf mich.
Sie kannte nichts anderes als Bravheit
und Pflicht und Ausführung und Versäuberung.
Mir war das Blut wichtig,
man malt mit Blut, nicht mit Wasser.
Man lässt das eigene Blut in die Ferne schwappen,
um die in der Ferne Schreibende heranzuholen.
Dem geht immer auch eine Art Lüge voraus,
eine Art Hoffnung, schleichendes Verschleiern.
Und Eintrübungen, Verschwommenheiten
die sich über jedes Bild gelegt hatten,
erzeugten tagblinde Bilddissonanzen,
prächtige Sehängste, die völlige Blindheit prophezeiten.
Blut auch, das ich aus ihren Sätzen herausgepresst hatte.
Ohne Ekel noch Lust, es aufzuschlürfen,
es war so abstrakt, so kalt, so klebrig, so unnachahmlich nicht ich.
Wäre es heiß gewesen, wär es augenblicklich
auf mich übergesprungen, mit einem Bilderregen.
Fraglich, ob ich mir diese fundamentale Nässe
gewünscht hatte, in dieser kurzen Zeit.
Mit Blut hatte ich die Zeit gedehnt,
aber auch schrumpfen lassen.
Ich konnte Blut in meiner Faust zusammendrücken
zu unsichtbaren Blutmännchen,
auch Blutwürfel, Blutkegel, die tanzten.
Ich brauchte kein Imponiergehabe vor ihr,
sie war ja gar nicht da.
Es war diese Frau gewesen, auf einem Foto
zwischen Versen wieder aufgetaucht,
mit dunkel geschminkten, weit auseinander lachenden Lippen.
Ich vertraute ihren sehr blauen Augen,
der ein wenig verwischten ägyptischen Augenumrandung,
dem geneigten Kopf, den zum Kinn hin gebürsteten Haarspitzen.
Es war ihr geneigter Kopf,
der mein Blut stoppte, die bloßen, hochgezogenen Schultern,
die Andeutung eines Willens zur Umwölbung aus der Ferne.
Dann dieselbe auf einer klapprigen Couch,
wie sie sich einem fast nackten, vielfarbigen Mann zuwendet,
der niemals ich sein kann,
ich bin ein Blutmann, kein Tattoomann,
keiner mit Hautverwandlungsphantasien.
So klein und kleinmädchenhaft
mit aufgestützten Armen im gelben Schlafanzug
nach rechts blickend hin zu dieser Figurenkontur,
in die ich nicht hinein gepasst hätte.
Ich hatte Loch gedacht, aber es mußte Kontur sein.
Die hatte ich ja auch gebraucht zur Niederhaltung der Angst,
die in mir aufstieg unter dem grünen Papiertuch,
wo mich der Bluttransport in meinem Körper ängstigte,
wo ich mich als allgemeine Blutquelle erfuhr,
während die draußen an mir herumwerkten.
In diesem linsenlosen Moment, im Gleißen,
das nicht zu vermeiden war,
stürzte dieser Satz in mir zusammen:
Wir glaubten an das Blut.
Das eine Wir hatte einen Gips am Arm,
der nur maximal eine Dreivierteldrehung erlaubte;
das andere lag da und dachte: Schluß damit, kein Licht

(Freitag, 21.3.2013)

(Zum Unesco-Welttag der Poesie)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

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