Erste Instanz

Samstag, 29. Oktober 2011

E-06 SUNDAY AT HOME

Tee aus dem Krug getrunken,
Tee mit Wasser aus dem Wasserkocher,
Honig aus dem Flaschenspender,
zwei Sorten, Kamille, Magenfein.

Hecke und Bäume beschnitten,
vom Klettermeister, seinen bosnischen
Handreichern – schöner indianischer
Mann in den Gurten, im Geäst.

Geschmolzene Plastikcontainer -
jetzt hinter Gittern die neuen, aus Metall.
Daneben nur Baumverschnitt,
no riots, no looters.

Nicht weit wärs zu Gewässern zum Angeln,
auch inmitten von verspäteten Nackten;
von Bäumen mit Stricken und Schaukeln
mit quietschend flüchtenden Enten.

Kein einziges Mal gestochen
in diesem Sommer, trotzdem
erstaunliche Zeichen auf Rist und
Schienbein – geritzt und eingebrannt.

Wer mich beißt, muß sich vorher
enthüllen: ich beisse die Äpfel,
die hautfarbenen Tücher darauf,
die Lippen meines Spiegelbilds

(Montag, 24.10.2011, 16.04)

(Siehe auch Janet Frame hier.)

Donnerstag, 6. Oktober 2011

E-05 WAS ROSEN

was Rosen, was für Rosen, was Rosen Rosen antun,
wissen wir nicht, was wir ihnen antun, bleibt ihr Rosengeheimnis.
Hinter den Zäunen in den Schrebergärten nachtschwarze Rosen,
sie lauern noch immer, mit keinerlei Geschenkabsichten.

Ich denk an dich, schwarze Rose, die braun und hypersensibel
an der Mauer hinter dem Bett hing, eines feuchten, berührbaren,
jetzt unberührt. Ich denk an dich, lackierte Rose, den ganzen lackierten
Strauß, für den ich ein schwarze Vase erwarb, bei Ikea.

Bei Ikea aller Rosen an deinen Wänden gedenkend, der Rosenfragen,
die nicht unmittelbar zusammenhingen mit deinem Leben:
Ich ließ dir dein Geheimnis, schrieb aber ohne Unterlaß
Rechtfertigungen ins Tagebuch, was für Rosen, was Rosen tun und warum.

Minutiös, wie du mit meinen Rosen umgingst, voller Skrupel, wie du
auf meine Rosennachfragen reagiertest. Einmal, vor einem Rapsfeld
dachte ich an rapsgelbe Rosen, ein rapsgelbes Rosenmeer, an deine Kunst,
Rosenleben auf einem so weiten Feld zu evozieren, mit einem einzigen Blick

(Donnerstag, 29. September 2011, 18.28 Uhr)

(Weiteres zu "Rosen" hier.)

Samstag, 1. Oktober 2011

E-04 TOTSEIN GANZ OHNE ROSEN IST NICHT LUSTIG

Totsein ganz ohne Rosen ist nicht lustig –
du warst am Soldatenfriedhof, und alle
Kreuze hatten russische Namen,
die du nicht lesen konntest.

Ich las sie mit deutschem Akzent.
Es waren deutsche Soldaten, die auf den russischen
lagen. Hier, sagtest du, wo wir wohnen, liegen
noch immer französische, auch auf dem Flugfeld.

Niemand liegt über ihnen. Unter ihnen,
in den Hügelgräbern, mitteldanubisch,
unbewaffnete Ahnen. Totsein
ganz ohne Rosen ist nicht lustig, sagtest du,

im Gedanken an Schnitzler, hier eingestiegen
ins Linienluftschiff, er hob ab nach Venedig,
über Felder, jetzt aufgewühlt und umgegraben,
über die Baumaschinen neben der neuen U-Bahntrasse.

Schnitzler steigt ein, neben Bombentrichtern,
den jetzigen Erdhügeln, künftigen Hochhäusern.
Schwankungen überm Gebirge, von der Leere
in der Tiefe ergriffen, über den Gräbern.

Er spürt die Kreuze, die du ihm nachwirfst,
deine Lesebeflissenheit, deinen Nahsehsinn.
Un coup de pistolet...! Er schreibt das, sagst du,
der Tochter, tot in Venedig, er schweigt.

Seine Schrift kannst du lesen,
Totsein ganz ohne Rosen ist nicht lustig –
du warst am Soldatenfriedhof, und alle
Kreuze hatten russische Namen und deutsche

(Donnerstag, 29. September 2011, 20.40 Uhr)


(Weiteres zu "Rosen" hier.)

Montag, 30. Mai 2011

E-03 DAS ROTE BAND

Es ist ein Hängen, still in sich ruhend, straff, etwas zutiefst Hängendes,
und das über der Lampe: das Rote Band über der Lampe, ihrem dünnen
Arm (er läßt sich biegen), es stretcht. Die Uhr oben in der linken Ecke
des Monitors stretcht auch, sie rinnt, geräuschlos verschleudert sie Ziffern,
verschwindet zu Zeiten, wo niemand an ein Verschwinden gedacht hätte.

Verschwinden ist verschwunden – zwischendurch –, und das fällt nicht auf.
Die Schachtel mit dem Schlangenmuster getürmt auf die Schachtel
mit den wichtigen Dingen, Sticks, Speicherkarten, Schichten finsterer
lüsterner Geheimnisse. Von oben Licht, Licht von zwei Seiten, es wird
so beschrieben: von der Decke fällts auf die Wand in drei Schwüngen,

auch von rechts herab in Augenhöhe auf die Tastatur, ohne daß es blendet.
Blendung ist der Graue Star, der Rote, der Grüne. Kaum die Augen offen,
blendet der Traum schon wieder durch Vergessen. Hing etwa ein Band
mir tatsächlich zwischen den Augen, verband es geheim Ein- und Ausgänge,
gab es eine Hauteruption, sich sträubende Haare, hingen künftige Knochen

in der Luft, baute sich eine Kollision mit Erinnerungen auf, in denen es
Hintertreppenstürze nur so hagelte? Ich, unten am kalten Beton, flach,
wie vom Blitz getroffen, neben den Heizungsrippen, blieb liegen,
der ganze Körper weh, voller Striemen, Schrammen, Blutspuren, als wären
alle meine Geliebten über mich hergefallen, fleischwund, mich, den Ripper?

Zwischen den Rippen die Nerven, um die Schlüsselbeine verknäuelt,
als würden sie dort neue Organe ausbilden wollen – nur eine Phantasie
aus dem Roten Band, das auch in der Badewanne erweiternd funktioniert?
Um die Stirn so, daß schräg hinunter, hin zum Wellenschlag, die Sicht
noch möglich ist, auch das Atmen, voll die Sicht auf die Selbstbefleckung,

auch Selbstentdeckung, Selbstversicherung. Und auch so, daß die Beine,
gesträubten Haare zumindest die Illusion einer Selbstbefreiung beinhalten,
von selbst getragen von der bettartigen Dampfformation, leicht gebettet
also auf diese Wolke, um von dort wiederum auf jenes Band zu schnellen,
rechts die Schlangenschachtel, links die hölzerne, die voller Geheimnisse.

Der Chor im Hintergrund so dicht, als wäre die ganze Familie angetreten,
um auf das Rote Band zu hüpfen mit mir, mirs zu entwinden im Training,
um selbst zu hüpfen, Chor aus lauter selbstverlieben Helden, schon toten,
sogleich zu unglaublichen Geständnissen bereit: Wir verurteilen, verachten
die Wiederholung, wiederholen die Verurteilung! Wir loben das lebendige

Rote Band, dessen Mitteilung – daß es nun nicht mehr hängt, nicht
mehr umschlingt, nicht schlingert und schlenkert, niemanden der Muskel
beraubt, der nächtlichen Denkkraft, deren schreiender Ergebnisse; daß es
eine zweite Haut sein wird, immer dünner, dünner als ein Hauch,
doch Membran, Lichtloch, Lichtmembran, die mit Lebenswut begeistert

(17.5.2011, 3.03 Uhr)

(Blick ins Nebenzimmer: Campo di urne 02)

Samstag, 14. Mai 2011

E-02 TRESOR

mit voller Absicht dieses Fundwort: Tresor. Ist das Ohr
ein Tresor? (Tres Ohr?) Ist dieses Sirren, das so nah
der Sprache erscheint, ein Dauerton, ganz aus der atmenden
Nähe, auch aus der Sternenferne, Widerhall von Lichtjahren,
die nie aufhören würden, sich zu äußern, auch ohne offenes
Ohr? Achja, offen, ohne geöffnet zu sein, schreiben, ohne
geschrieben zu werden, sehen ohne Sicht und doch Durchblick?

Ein Frühling, der hinterm linken Ohr hinweht. Es ist auch ein Wehen
am Bildschirm, schwankende Helligkeiten inmitten schimmernder
Schwärze – schwarzer Monitor, der zweite, dritte, und darauf
ein schlaffes Blatt, das sich nie erheben würde, wenn nicht
ein Pfauchen aus mir herausbräche, künstliche, sehr gesteuerte
(beteuerte) Wut. Gestern Wut, heute keinerlei Reue. Ruhe.

Nach dem morgendlichen Aufbruch des Personals tagsüber Ruhe.
Das Personal ruht auswärts. Das Licht zuckt über die schwarze
gerahmte Fläche – nur Reflexion von Papierhaufen hinterm Rücken.
Rücken und Nacken gestreckt, steife Selbstbewahrungshaltung.
So der Schmerz (und ein solcher auch direkt hinterm Ohr) beinahe
wie ausgeschaltet, weggesperrt in ein anderes Zimmer, achja,

dort unter dem Bett, der fraglichen Wand rechts, die nie fragt,
sondern starrt voller altmexikanischer Vorausahnungen.
Jetzt Pause, auch aus dem Magen, mit herausragender Sonde
hin zum linken Ohr – wer wagt es, mir deshalb Linkshändigkeit
zuzuschreiben? Ich selbst erfand sie mir unlängst, ohne Not.
Ich sei Linkshänder gewesen, gewalttätig umgeschult.

Sah mich als Schüler, dem das Ohr zornig wuchs in der Hand
des Lehrers, der es wusch und salbte, auch Stirn, Nase und Wangen.
Zu welchem Zweck? Solch ein Lehrer kommt aus dem Tresor der Zeit,
die zugleich so unwahrscheinlich zusammengepreßt unterm Stuhl lauert.
Der Stuhl (sonst das Allerlauteste im Raum) schweigt. In der kleinsten
Bewegung die Möglichkeit, daß alles auf einmal abblättert und
ich mich hinausstürzen muß bei der Tür in die Natur voller Herzweh

(Freitag, 13.05.2011, 15:37 Uhr)

(Fundstelle: http://www.aleatorik.eu/2010/11/30/%E2%80%9Edie-ganze-zeit%E2%80%9C-wenn-ein-text-ein-tresor-ist/)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 15)

Freitag, 13. Mai 2011

E-01 SCHATTENBLITZ

vorhin dieses Foto des jungen Kafka, schön schwarz-weiß und
ganz zufällig, wie auch immer ein solcher Zufall zu werten ist,
der sich innerhalb eines unkalkulierbaren Gespinsts ereignet,
so auch wie jetzt wo ich – im Rahmen einer Absicht – auf
ein Gedicht stieß, dessen Äußerlichkeit – als Buchstabenpaket –
schon eine eigentümliche Verschlossenheit transportiert, die mir –
im Augenblick – nur den Zugang zu einzelnen Wörtern erlaubt,
Denken, Vogel, Luft, Schatten, mich – als allererstes –
mit Schattenblitz verquickt, einer Worterfindung/Wortfindung,
die mich auf mich selbst zurückverweist, andererseits – und das ist
vielleicht der Sinn – ganz mit dem allgemeinen Lebenserhaltenden,
das mir und allen anderen um mich herum derzeit zur Verfügung
steht, Luft, wozu ein Satz von gestern wieder auftaucht: nicht
das Herz, sondern die Lunge sei das wichtigste Organ, was ein
üblicherweise Vergessenes ist, auch von Ärzten, und – wieder
von gestern – Vogel, eine Schar Vögel am Spätnachmittagshimmel,
ein Rudel, Pulk, Zug in Formation, Krähen – Saatkrähen, Nebel-
oder Rabenkrähen – auf dem Weg zum Nachtquartier, ehe die
Sonne untergehen wird (so die gesprochene Zeile), hinter
dem Dachhorizont, der Rauchfangbatterie, unter einer
voraussichtlich – im Vergleich zu mexikanischen Sonnen-
untergängen – bizarren Wolkenformation und entsprechend
barocken Lichtstrahlenblenden, derzeit – an einem ganz
anderen Ort – ersetzt durch gleichmäßig durchwachsene
Dunkelheiten, aus denen heraus sich noch unbelaubte Zweige
ins Blickfeld schieben, womit ich leicht schließen kann, nicht
mit dem Wort Wüste, das kein Fundament für mich darstellt,
keinen Ort der Sehnsucht, keinen aus Träumen, kein Traum-
führungsziel, keine Instanz zum Wagnis von Unsichtbarkeit

(Montag, 4.4.2011, 19.58 Uhr)

(Siehe dazu das Gedicht von Daniela Danz bei Aléa Torik.)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 14)

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