Obachter

Samstag, 24. November 2012

O-40 BERLINER ZIMMER 3

mit der Zeit eine Sammlung von Plastiksäcken, berliner
Tüten, in dieser Wohnung, neben Mitgebrachtem,
hier hastig Hinzugekauftem. Ich könnte mich jetzt
wie eine Panoramakamera drehn, im Uhrzeigersinn,

von der Eingangs- zur Balkontür hin, immer wieder
beim Rückweg die Augen niederschlagend
auf das Bett in der Ecke. Die Palme läßt ihre Fächerblätter
unbewegt hängen, Schutzmuster, überkreuztes Gewissen.

Der hellgrüne Paravent vor dem Bügelbrett,
den hingeworfenen Schuhn, dem Fotografenabfall:
die schwarzen Kleider, von Schwerkraft gestrafft,
auf Bügeln, die Schultern nachahmen.

Der rote Seesack unter der Filmlampe gehört nicht mir.
Nichts ist gepackt. Am Abend wird dieses Zimmer
zuklappen, die Treppe hinter uns versinken,
das Haus, die ganze Stadt, ins Wasserloch darunter

(Freitag, 13.04.2001, 13.30 Uhr, Berlin)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Donnerstag, 22. November 2012

O-39 BERLINER ZIMMER 2

lächelt ein untrügliches Lächeln, das eigentlich
keins ist: verschlossener Mund,
grad die Lippenlinie; standhafter Blick.

Nur die rechte Brust – fester, abgegrenzter Hügel
mit brauner Warze inmitten eines rosigen Hofs -
sichtbar zwischen ihren Händen, von Daumen

und Zeigefinger umfaßt, ein wenig nach oben gedrückt,
Darunter noch ein Stück Haut, und nur
vom Gürtel das Kleid an den Hüften fixiert.

Verhangener, inständiger Blick,
der ihr gestattet, den Stoff unter dem Nabel
auseinanderklaffen zu lassen. Strümpfe, deren Ansätze,

dazwischen Gewölle. So hat sie sich auf der Couch
vor dem roten Telefon hingebreitet. Kein Anruf,
doch dumpfe Schläge von draußen, Gerumpel:

Mülltonnenleerung, und die Leerer bleiben unsichtbar.
Würd ich das Buch öffnen, wär ich von Frauen umgeben,
die einander abwechselnd küßten, wie auf Befehl:

innig, ausdauernd, mit und ohne sichtbare Zungen.
Könnte mich nicht lösen, Füße Beine Schuhe vergessend;
überhaupt das Gehn. Spürte nur warmen nassen Sinn

(Donnerstag, 20.4.00, 11.10 Uhr, Berlin)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Dienstag, 20. November 2012

O-38 BERLINER ZIMMER 1

beugt sich und putzt; schau und schreib nieder.
Die Scheibe birst, meine Kraft konzentriert
sich links und erlischt. Morgen ist ein anderer Tag,
domani è un altro giorno.

Die erste Kamera, Exacta, müßte jetzt
vor mir auferstehn, ich unter dem Tisch,
erregtes Hündchen, hinter der Kredenz
Staubmanteljesus, Aphorismenspucker.

Noch immer nicht fertig: die Glasreinigerin
gegenüber, die mir den Rhythmus vorgibt.
Kommt wieder hoch. Wischt mit Papier,
Kupfermechanismus. Pendelt wie ich.

Erkennt mich nicht; lockt, doch betrügt nicht.
Aus der Sonnenfront, zur Entwicklung, Rotlicht.
Ans Licht kommen, gleich. Dann eine Art Happy End:
Heiligenbild, Heizkörper, leeres, zerwühltes Bett

(Donnerstag, 20.4.2000, Berlin)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Samstag, 15. September 2012

O-37 DER SOGENANNTE HERR HELL

der sogenannte Herr Hell ist ein Mann,
den es eigentlich nicht gibt: irgendwo
aufgelesen, jetzt wieder angenommen.
Er ist und ist nicht.

Ich will mich nicht entscheiden.
Niemand kann mir seine Existenz
aufzwingen. Vielleicht saß er gestern
auf dem nur erinnerten Naturlehrpfad:

Mann in Kadmiumorange,
sehr gebrochen, selbstgedämpft.
So spiegelte er sich im beinahe
glatten Wasser. Ich dachte,

er würde etwas zeichnen, wollte das
aber nicht überprüfen. Allerdings
ging ich auf Schienen bis zum Tor
eines wie aus der Hölle aufgestiegenen

Fabrikareals inmitten der Au. Herr Hell
(er war es doch) schob ein Rad vor sich her,
und ihm folgten zwei Paare mit Hunden.
Ich zählte die Stufen zum Straßenniveau.

Der sogenannte Herr Hell kam mir
nicht nach. Doch vorm Kirchentor stand
ein Verkrüppelter, und hinein lockte er ihn
mit einem Versprechen: abzulesen sind dort

die komplette Schöpfungsgeschichte,
alle Leiden der Menschheit, auch deren Erlösung
(und im besonderen die des Herrn Hell),
ohne daß jemand etwas daran ändern kann

(Dienstag, 24.10.2000, 17.50 Uhr, St. Georgen)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Donnerstag, 13. September 2012

O-35 WETTERMÄSSIG

hier hatte ich es bisher ganz einfach, wettermäßig:
Nebel, jedenfalls morgens, und danach die Frage,
ob er sich hebt. Gestern, beispielsweise, hob er sich.

Gleich zeigte sich ein makellos schimmriger Himmel.
Ich saß in der Kammer, streckte mich auf dem Moor aus,
eingepackt in Laken und Decke, wollte lesen,

bemerkte in der vibrierende Dunkelheit einen Vorhang,
nur am Rand ein wenig gerafft, einen Spalt Außenwelt.
Später sah ich durchs Fenster: nur Wolken,

von allen Seiten zusammengepreßt, hinter dem Nebentrakt
aufgetürmt, im Westen, zu einer steilen ausufernden
Anhöhe, in der Farbflächen durcheinanderwirbelten.

Jetzt achtete ich nicht mehr länger auf den Himmel.
Zurückgezogen in die beiden Stiegenhäuser, verschachtelten
Gänge, klammernden Räumlichkeiten in allen Etagen,

verbrachte ich Tag und Abend. Noch immer
keine Sonne, die das Wochenende erheitert.
Die Wiesen mattgrün, sattbraune geackerte Felder.

An einigen Stellen Birken in diesem mit jeder Drehung entfalteten
Landschaftsprospekt, gelb inmitten noch grüner Baumbestände.
Keine Ahnung, wer unter diesem rotem Dach dort wohnt.

Soll ich hingehen? Soll ich überhaupt einem der Wege folgen,
die sich im Blickfeld kreuzen? Hat sich der Nebel, der plötzlich
alles wegsaugt, nur für mich hier niedergelassen

(Mittwoch, 25.10.2000, 8.50 Uhr, St. Georgen)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Dienstag, 11. September 2012

O-34 GELIEBTE

aus einer sehr fernen Vergangenheit,
ihr wie aus dem Gesicht geschnitten,
trieb sie mir entgegen –

begleitete mich aufs Zimmer,
bot mir Schutz vor den andern an,
saugender Geselligkeit am Rauchertisch.

Ich begriff nicht gleich,
daß sie die wiedererstandene
allererste Geliebte sein sollte,

ihr Erinnerungszuspruch,
die Warnung davor, der Verkörperung,
viel jünger, als sie es damals war,

auf den Leim zu gehen.
Unberührbar die Neuausgabe
in ihrer eifrigen Wendigkeit:

bediente mich, ging völlig auf
in der Augenblicksaufgabe, blieb
ohne Beifall, Aussicht auf Orgasmus.

Beim Abschied schließlich Rosen,
die über die Nacht verwelkten
und nicht nur ihr gelten sollten:

nahm sie, im Vorbeigehn, wandte sich
nur kurz um nach mir, bei der Tür,
mir brannten Bauch und Stirn

(Samstag, 4.11.2000, 8.40 Uhr, St. Georgen)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Sonntag, 9. September 2012

O-33 HIMMEL

gleich hinter dem Nacken
beginnt dieses Ungeheure,
mit dem Sog nach draußen,
in die Weite, hinauf.

Der erste Blick, der sich wiederholt:
durchs aufgedeckte Fenster Licht,
das blitzschnell den Raum füllt,
aus dem hellblauen, schlierigen

Quadrat, das die Sonne verbirgt.
Tief innen der Atem. Verdacht,
im vielfach gesicherten Haus mitten
im schwärzesten Himmel zu sein

(Freitag, 7. 7.2000, 8.45 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Freitag, 7. September 2012

O-32 FRAGE

vorwitzige Frage: bändigt
Erinnerung, stillt die Absicht?
Trifft mich auf den Stufen hinunter zur Donau
der Blick, die Stimme, das einzige Gebot der Stunde?
Wer eröffnet den Tanz
auf der Brücke, die schon summt

(Sonntag, 02.07.2000, 19.20 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Mittwoch, 5. September 2012

O-31 IN AUGENHÖHE

was jetzt geschrieben wird,
stand noch nie da.
In diesem Buch
hätte ich früher nie geblättert.

Es liegt zwischen Tastatur
und Monitor
über all dem Abfall,
der sich angesammelt hat

in den vielen letzten Wochen:
Rechnungen, Tabletten, Fotos,
Gläser, Stifte, Steinchen, Lurch -
das alles in befremdlicher Eintracht.

Etwa bis zur Mitte hin
hab ich’s gelesen,
im anderen Zimmer.
Und dort in der Ecke beim Müllsack

ein mehrfach verschnürter Koffer,
zwei ungleiche Schuhe,
eine speckige Brieftasche,
Prospekte, Zeitungen, Socken, Handtücher -

das alles auf dem Boden,
in Augenhöhe.
Was jetzt eintritt,
ist unvorhersehbar

(Montag, 15.01.2001, 18.10 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Donnerstag, 5. Juli 2012

O-30 PLATTFORM DER ZUKUNFT

auch Reiche schrein, nicht nur
in ihren Träumen: managen sie so
ihr Überleben? Staus, allgegenwärtige,
brennender Müll, von allen Seiten
zugefahren von vibrierender Vitalität.
Zugleich Chaos, Verfall, Gewalt, Auflösung:
stehn wir jetzt auf der Plattform
der Zukunft, die uns hochhebt, weiterfährt
ins afrikanisch überwölbte Europa,
belagert vom Süden her, überschwemmt
und aufgerollt? Ich umarme die Entwurzelten,
ich umarme die Aidsboten, die beinahe
Hungertoten, den Sklaven-Ersatz,
der uns Existenz lehrt, Nahrungssuche,
winzige Mahlzeiten auf verwischten Spuren,
Nutztierwärme, ausgesetzte Intelligenz

(Mittwoch, 24.04.2002, 17.20 Uhr, Paris)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

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