e.a.richter : Rubrik:Schreibzimmer
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2014-10-01T19:49:31Z
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SZ-05 ALLES FREMD
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Waschküche, Waschtrog, Kessel, Stall, <br />
Kuhfladen, Jauchegrube, Dachboden, Großmutters<br />
Kommode dort oben im Heu, gleich neben<br />
der roten Blechtür, den Stufen zur Selch,<br />
Lesegrube im Stroh oder in den Getreide-<br />
<br />
aufschüttungen im Nebentrakt, Werkstätte, <br />
Werkzeug, Nägel, Sägescharten, Karbid, <br />
Fahrradlampe, Schweiß, Barthaare, Pitralon,<br />
Vater im Bad, Bruder in der Klothhose,<br />
Kernseife, Schmierfett, Erdäpfel, Rüben<br />
<br />
in Massen im Keller, schwitzende Fässer, <br />
Blut, gestocktes, von Schweinen, blökenden,<br />
Lämmern, hell spritzendes Hühnerblut,<br />
Dämpfer mit Schweinesud, Katzenkrallen,<br />
Hund an der Kette, in seiner Hütte<br />
<br />
unter dem Götterbaum, Pisse an jeder Ecke, <br />
von allen Familienmitgliedern, Onkel auf dem Moped<br />
mit dem Wiener Rucksack, Butterfass,<br />
gedrechselte Tischbeine, Nussfurniere, <br />
aus Gras gedrehte Zigaretten - Erdlöcher <br />
<br />
in Abhängen, Weingärten, Kupfervitriol,<br />
alles blau markierend, für zwei, drei Tage,<br />
Weintrauben, Weinpresse, Trestern zwischen <br />
den Zehen, Most, Sturm, Kröten- und Fischschleim, <br />
Blutegelzucht im Nabel, Konservenbüchsen, <br />
<br />
Kondensmilch, Mehl- und Erdäpfelsäcke, <br />
aufgeplusterte Tuchenten, Gänsefedern, brütende <br />
Hennen, aufgeschlagene eingesaugte Eier, <br />
Hacken mit Hackstöcken, zwischen aufgehackten <br />
Scheiten, der Herd, in dem immer Holz glost,<br />
<br />
Wasser brodelt, kochendes Fleisch, tote <br />
enthäutete Hasenleiber, an der Stadelwand <br />
das abgezogene Fell, Kuhschellen, Steinnelken,<br />
Maiglöckchen, und Pfingstrosen, auf Altären <br />
an Häusermauern, mattes wüstes Gras auf der Straße,<br />
<br />
Kleehaufen, Zungenküsse von Kühen, Kälber<br />
im Geburtsschleim am Stroh, Ochs am Feld,<br />
bremsenbedeckt, Buchenzweige mit welken <br />
Blättern, Arbeitsgewänder im Vorraum, Speis,<br />
Mehltruhe, Grammelstrudel, geflochtene Kränze, <br />
<br />
Schnitte von Glasscherben, brennende Halmstiche,<br />
Staubkrusten am ganzen Körper, Essigwasser <br />
mit Zucker, Schwämme, Herrenpilze, Morcheln, <br />
Rost auf Sensen und Sicheln, Dengelstock, Kumpf, <br />
Krautfaß, Sulz, Hirn und Hoden, auch eigene, <br />
<br />
bleich im Badewasser, verkürzte Ober- und <br />
Unterschenkel, schwimmender, aufgeblasener <br />
Penis, malträtiert mit künstlichen Paradiesen, <br />
unbegangenen Sünden, Strafaktionen für die Sünden<br />
anderer, umworben von Gottes Mund<br />
<br />
(Mittwoch, 10.08.2005, 22.10 Uhr Paris)
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SZ-04 KÖRPERGEBURTEN
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aus dem Mund mein kleiner Körper,<br />
der wiederum einen noch kleineren gebar usw.<br />
<br />
Damals hatte ich noch einen Bart,<br />
der das Gesicht dunkel umrahmte,<br />
<br />
straffe Haut, noch keine bröseligen Lippen.<br />
Ich blickte auf, sah mich oben verschwinden<br />
<br />
und gleich wiederkehren in Form von Schönheit<br />
Gnade Reichtum, alles in der Zukunft.<br />
<br />
Ich atmete mich wörtlich aus,<br />
als Toter, der wiederum Tote gebiert, <br />
<br />
und beim nächsten Atemzug,<br />
kehrte ich in mich zurück, scheinbar unverändert.<br />
<br />
Ich hielt die Augen offen.<br />
mein Hauch beschlug sie mit sanften Tränen.<br />
<br />
So war mein Traum, <br />
damals um die zwanzig, ex cathedra <br />
<br />
(Montag, 12.08.2002, 16.40 Uhr, London)<br />
<br />
(Erschienen in: <a href="http://www.amazon.de/Schreibzimmer-E-Richter/dp/3902113944/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1366990631&sr=1-1&keywords=schreibzimmer">Schreibzimmer, Edition Korrespondenzen, 2012</a>)
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SZ-03 ANMUT & WÜRDE
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im Ganzen genommen egal, ob Dienstag, Mittwoch,<br />
Montag, Samstag oder Freitag: auch heute, an einem<br />
Donnerstag, besteht Hoffnung, daß der nächste<br />
Sonntag noch erreicht wird, vielleicht ein fetter<br />
(mit Fischfett, fettem Gefühl, samtigem Fettgewebe);<br />
<br />
daß sich die Wettervorhersage prompt erfüllt<br />
(Sonnenscheindurchbruch in weiten Teilen des Landes),<br />
sich auch etwas oder mehr - von der Anmut des<br />
weiblichen Geschlechts neuerlich enthüllt, nicht nur eine<br />
gewisse körperliche Basis, sondern gleich Biegsamkeit<br />
<br />
(so biegsam in etwa wie die Nackten von Femen in Kiew -<br />
so unübersehbar präsent auf allen Medienschirmen)<br />
und die sittliche Harmonie der Männer, auch ihre<br />
Schönheit, die sich nicht nur in Reih und Glied marmorner<br />
Statuen zeigt, in beharrlichen Leibesübungen, im Marathon<br />
<br />
sexueller Bemühungen, auch in triefenden Wanderstiefeln<br />
beim Durchmarsch durch die Donauauen,<br />
im farbleeren Dickicht, im dumpfen Laubgewölle,<br />
im Napoleon-Gehege. So wird dem Charakter<br />
schon im voraus ein wenig die Dichotomie<br />
<br />
abgelassen, die Geschlechter nehmen die voneinander<br />
aufgelesenen Spuren und Eindrücke wahr, auf Frühling<br />
getrimmt, als Tauschgeld - nicht unbedingt traurig, <br />
womöglich spielerisches Gehüpfe von einem<br />
Standbein aufs andere, das eine Frau, das andere Mann<br />
<br />
(Donnerstag, 10. November 2011, 16.33)<br />
<br />
(Erschienen in: <a href="http://www.amazon.de/Schreibzimmer-E-Richter/dp/3902113944/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1366990631&sr=1-1&keywords=schreibzimmer">Schreibzimmer, Edition Korrespondenzen, 2012</a>)
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SZ-02 A POET'S PROGRESS
http://earichter.twoday.net/stories/sz-02-a-poets-progress/
<p id="editor">
</p><p id="editor">
sein jüngster Ersatzliebhaber wollte ich nicht sein, <br />
auch nicht ein <i>bed-visitor</i>. Sein Bad hab ich <br />
nie geputzt, nie seine hundert Goldfische<br />
umgelagert, bin auch nicht in seine ausgetretenen<br />
Patschen geschlüpft, hab seinen klapprigen VW <br />
mit keinem einzigen Tropfen beschmutzt. <br />
<br />
Es gab keine bellenden Hunde in der Nacht, <br />
nur eine Unmenge Katzen, die nicht <br />
in die Notaufnahme mußten, wenn er weg war <br />
sie wurden verwöhnt, von den Nachbarn, <br />
von angereisten verwegenen Verehrern,<br />
vom Hausfreund, von verstorbenen Dichtern.<br />
<br />
Die Umgebung des Hauses, in dem er wohnte, <br />
war keine Mondlandschaft, sondern sanft hügelig <br />
zwischen Perschling und Donau, mit einer Bahn, <br />
die ihn schnellstens nach Wien bringen konnte. <br />
Und in der Nähe der Fichtenwald, der Tann,<br />
der ihm Natursex gestattete, urgriechische Anwandlungen<br />
dem Briten, in Specht- und Käfergesellschaft.<br />
<br />
Er pflegte sein Echsengesicht, blickte aus<br />
immerwachen Echsenaugen auf die transatlantische, <br />
die mitteleuropäische Nachkriegswelt. <br />
Es war überall gleich furchtbar wie immer, <br />
provinziell nur in diesem Land, das Niveau rapid gesunken, <br />
ohne Krawalle und Streiks, ohne Drogenkonsum.<br />
<br />
Ihm war egal, wer seine Gedichte auswendig konnte -<br />
er schrieb Libretti, eins zu<i> A Rakes Progress</i> <br />
die gesungen werden mußten. Wenn die Oper,<br />
die Kulturbeamterei versagte, sang er sie selbst<br />
seinen Katzen vor, den ungerührten Goldfischen, <br />
wenn sein Liebhaber wieder einmal auf Tour war</p>
(Sonntag, 9.10.2011, 0.30 Uhr)<br />
<br />
Siehe auch <a href="http://www.blogs.uni-osnabrueck.de/zuber_studyskills/files/2008/11/kirby1large.jpg">hier</a> , <a href="http://johngushue.typepad.com/.a/6a00d83451f25369e201347ff6f7c2970c-pi">hier</a> und <a href="http://en.wikipedia.org/wiki/W._H._Auden">hier</a>.<br />
<br />
(Erschienen in: <a href="http://www.amazon.de/Schreibzimmer-E-Richter/dp/3902113944/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1366990631&sr=1-1&keywords=schreibzimmer">Schreibzimmer, Edition Korrespondenzen, 2012</a>)
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SZ-01 SCHREIBZIMMER
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hier fuhr ich weg, nachdem die Putzfrau gekommen war, <br />
ausnahmsweise an einem Sonntag, was mich im Vorhinein <br />
schon mit einer gewissen Unruhe erfüllt hatte, auch Scham: <br />
ich schäme mich tatsächlich fast immer ein wenig, <br />
<br />
wenn sie in meiner Gegenwart putzt, auch wenn ich <br />
ihr dabei nicht zusehe. Ich überlegte, ob ich nicht <br />
schon vorher wegfahren sollte, fand das aber albern <br />
und blieb, bis sie läutete. Sie läutet immer, um auf sich <br />
<br />
aufmerksam zu machen, obwohl der Schlüssel in einem Gefäß<br />
bei der Eingangstür liegt. Ich hörte, wie sie das Rad abstellte<br />
und jemanden grüßte. Sie läutete, ich reagierte nicht. Erst <br />
als sie schon im Bad stand, schob ich die angelehnte Tür <br />
<br />
des Schlafzimmers auf und stellte mich vors offene Bad. <br />
Sie trug bereits ihre gelben Arbeitshandschuhe, sprach <br />
bedauernd darüber, dass sie noch immer keine eigene Unterkunft <br />
gefunden hatte, allerdings auf eine Gemeindewohnung warte <br />
<br />
und währenddessen alles Angebotene in Kauf nehmen würde. <br />
Ich schlug ihr ein Essen in einem Lokal in der Nähe vor, aus Anlaß <br />
ihrer Schtaasbiagschaf. Manchmal sagte sie auch Schtaasbüaga,<br />
Schtaasbiaga oder nur Biagschaf. Oft halte ich sie von der Arbeit ab, <br />
<br />
um mit ihr zu reden, schon wegen der neuen Wörter, <br />
die von ihr zu lernen sind, ihrer ureigensten Grammatik.<br />
Noch immer denke ich daran, mich mit ihr einmal zu treffen<br />
und Sprachaufnahmen zu machen, wegen ihrer ständig <br />
<br />
in Bewegung befindlichen Deutschsprachwortbildung. <br />
Also genug Grund sich zu schämen, wenn sie Staub saugt, <br />
Staub wischt, Fenster putzt, alles in der Küche und im Bad<br />
Befindliche zur Reinigung in ihre behandschuhten Hände nimmt.<br />
<br />
Gestern lud ich sie gleich auf einen Kaffee oder Tee ein.,<br />
Und danach: Apfel oder Kuchen? Und wie so oft sagte sie: Schpäta, <br />
noch Oawat. Ich sagte: Tschüß, nachdem sie erwähnt hatte, <br />
dass auch ihre zweite Tochter die Biagaschaf anstrebt, <br />
<br />
jetzt, nachdem sie von ihrem Mann, der ein Jahrzehnt <br />
rauchend und fernsehend die Scheidung verhindert hat,<br />
endlich weg ist. Im Auto war zuerst nicht klar, ob ich <br />
zum Training oder gleich zum Schreibzimmer fahren sollte. <br />
<br />
Ich übersah dort den Staub auf dem Fensterbrett, die staubigen <br />
Gläser, die Flasche mit dem fast farblosen Cola, die Staubschlieren <br />
auf den Scheiben, den Staub und die Flecken auf dem Boden. <br />
Zuerst musste ich Zeitschriften und Bücher vom Bett entfernen. <br />
<br />
Dann zog mich aus, legte eine Decke und zwei Pölster <br />
auf die bloße Matratze. In der Krone bekam ich prompt<br />
14 Punkte für meine Selbstkontrolle, 12 für meine Neigung <br />
zum Genießen, was mich höchst erstaunte, aber nur 8 <br />
<br />
fürs Sich-Gehen-Lassen. Außerdem las ich noch<br />
einen der stets lehrreichen Artikel der Gerti Senger. Diesmal: <br />
Wie schnell ein Mann kommen soll. Was es bewirkt, <br />
wenn er zum schnellen Orgasmus aufgefordert wird. <br />
<br />
Ich erinnerte mich an einige Frauen, bei denen ich ähnliches <br />
erlebt hatte. Eigentlich nur kontraproduktive Erfahrungen: <br />
zuerst das Ausdauertraining, so lange, bis es Spaß machte; <br />
dann und das war gewiss keine Wahl ab und zu solche, <br />
<br />
die entweder nach kurzer Zeit kamen vielleicht das nur spielten <br />
oder auf längeren Sex überhaupt gar keinen Wert legten. <br />
Dazu fiel mir gleich das Gegenbeispiel ein, eines, an das ich <br />
bei solch flüchtigen Reminiszenzen immer denken muss: <br />
<br />
Schriftstellerin, die DDR-Frau damals für mich in Person. <br />
Sehr dünnhäutig, sehr labil, frauenpflegerisch, aufgebaut <br />
von Volk und Welt, ihr Werk über fünf Jahre lang finanziert <br />
und auf Lesbarkeit zurechtgestutzt. Wohnung beim Alexanderplatz,<br />
<br />
Laube in Adlershof, weit draußen. Wie sie dort kochte, wie sie <br />
Weniges viel erscheinen lassen konnte. Wie sie mich scherzend<br />
durch den Osterwald zog, über stromführende Schienen. <br />
Sie kam schon im Linzer Hotel, noch in der ersten Nacht, <br />
<br />
mehrmals, auch für sie überraschend. Und die anderen Male, <br />
in ihrer Plattenbauwohnung im ersten Stock, in ihrem kurzen,<br />
viel zu harten Bett: sie hielt durch trotz ihrer oft eingetretenen<br />
unerklärlichen Ohnmacht. Sie genoss es und trieb es voran. <br />
<br />
Erstaunlich, dass sich jetzt grad das, was sich mehr in Briefen <br />
als am realen Lebensort abspielte, gleich in den Mittelpunkt <br />
gerückt hat. Erstaunlich, wie wenig Konkretes Gerüche, <br />
Gefühlsintensität, unwiederbringliche persönliche Details <br />
<br />
von Ehen, Seitensprüngen und Abenteuern verschiedenster Art<br />
geblieben ist. Erstaunlich diese völlig unerwünschte Schrumpfung<br />
auf eine Gefühlsminiatur, ein Konzentrat, in dem sich so vieles<br />
mischt, zu dieser Gefühlseinheitsfarbe, Blaurotgrüngrau.<br />
<br />
Bedenkenloses Vergessen durchzieht die Tage und wird beklagt, <br />
zugleich auch mit einem gewissen Genuss gefördert. Ich schaue <br />
nicht zurück, so die Prämisse. Ich schaue zurück, doch nur kurz, <br />
um mich des Zurückschauens vorsorglich zu entledigen.<br />
<br />
Im Standard las ich über zwei Arten, Krieg zu führen <br />
jene der Briten und die der Amis. Die Amis töteten<br />
Frauen und Kinder, um die Bewohner zu schocken<br />
und so leichtere Durchfahrt zu haben; die Briten<br />
<br />
schossen zuerst in die Luft, dann in den ersten Reifen,<br />
in den zweiten usw., bis sich das Auto nicht mehr bewegte. <br />
Nun der Bericht über die Neocons, die unter anderem hoffen, <br />
dass sich der Irak vorbildhaft zur Demokratie entwickelt, <br />
<br />
die sich danach wie eine hormonelle Kaskade auf die ganze Region <br />
ergießt und so den Amis einen weiteren Krieg erspart. <br />
Schließlich der Artikel über die mehr als 1000 Juden 1939<br />
im Praterstadion, vor dem Abtransport noch wissenschaftlich <br />
<br />
vermessen, und Winds of Life. Destinies of a Young Viennese Jew,<br />
das Buch des einzigen Überlebenden. Schwierig, mich zu konzentrieren <br />
zwar Sonntag, aber wie hätte ich vergessen können, <br />
dass hinter der Mauer, an der die Anrichte der Tante steht,<br />
<br />
ein Mann lebt, der Heavy Metal hört oder sich Pornovideos<br />
reinzieht. Gestern hörte er Black Sabath, so laut, als wäre<br />
zwischen ihm und mir nur eine dünne Mauer. Plötzlich<br />
merkte ich den Kopfschmerz. Ich stand auf, ging zur Anrichte, <br />
<br />
wo oben alte Kassetten lagen, aber auch Ordner, Schachteln<br />
mit Briefen und Zeitungsausschnitten, und darauf Fotos,<br />
die in Klarsichthüllen steckten, auch sie staubig, vielleicht <br />
voller Bakterien ohne dem Impuls nachzugeben, <br />
<br />
sie vorher zu betrachten, um mich der Erinnerungsbilder <br />
an Wanderungen durch Städte, Bergbesteigungen, Fernflüge<br />
zu vergewissern. Ich wischte sie feucht ab, noch immer im Schwanken,<br />
ob ich den Nachbarn von meiner Anwesenheit informieren sollte <br />
<br />
oder das Schreibzimmer so schnell wie möglich verlassen. <br />
Inzwischen hatte es drüben mehrmals geläutet, ohne dass sich <br />
viel änderte: neue Band, raues Gebrüll mit Hall. Zwischendurch<br />
auch weniger Aufdringliches, das sich aber nicht durchsetzte.<br />
<br />
Plötzlich gabs eine Pause, und ich hörte zwei männliche<br />
Stimmen, ohne zu verstehen, was sie sprachen. Sie standen <br />
etwa einen oder eineinhalb Meter von der Mauer entfernt,<br />
und schon das verzerrte ihren Dialog zur Unverständlichkeit.<br />
<br />
Ich sah auf den Wecker auf dem Kasten der Großmutter:<br />
die Zeiger waren ein paar Minuten vor 13 Uhr stehengebliebelieben,<br />
an irgendeinem Tag, nicht in meiner vergesslichen Gegenwart.<br />
Ich war noch immer bloßfüßig, der Staub auf dem Boden<br />
<br />
gab mir den Impuls, daran zu denken, hier aufzuwischen,<br />
auch die verschmierte Waschmuschel im winzigen<br />
Vorzimmer zu reinigen, die Klobrille. Keine Ahnung, <br />
wann ich dort das letzte Mal gesessen war. Ich rettete mich <br />
<br />
mit dem Gedanken, dass ich ja jemanden einladen könnte, <br />
um mich so zum Wischen, Staubsaugen und Putzen zu motivieren. <br />
Einen Moment lang dachte ich an die Putzfrau: wie sehr ich mich <br />
schämen würde, wenn sie sich hier vor meinen Augen <br />
<br />
in dieser Enge bücken müsste. Wohin ich dann gehen sollte. <br />
Wie ich ihr diese Verwahrlosung überhaupt erklären könnte. <br />
Es war klar, nie würde ich ihr vom Schreibzimmer erzählen, <br />
in keinem Zusammenhang. Währenddessen war die Musik völlig <br />
<br />
verstummt, und die Stimmen waren ganz leise geworden. Die beiden <br />
Männer ich wusste nicht, in welchen ich mich versetzen sollte, <br />
würde ich die Situation umkehren wollen , hatten sich offenbar <br />
ins Wohnzimmer oder in die Küche zum Essen zurückgezogen. <br />
<br />
Ich wollte sie animieren, die Wohnung zu verlassen, <br />
und zwar genau in dem Moment, wenn ich die Tür öffnete <br />
und auf den Aufzugknopf drückte. Gewöhnlich <br />
stand der Aufzug, wenn ich hinaustrat, nicht im letzten Stock, <br />
<br />
sondern darunter, oft im Erdgeschoß oder im Keller. Also gab es <br />
noch einen Spielraum, eine Chance für den Zufall,<br />
die von mir vorgestellten Gesichtsfragmente zu korrigieren <br />
und zu realen Gesichtern zusammenzufügen, fürs Protokoll. <br />
<br />
Der Lift kam nicht. Ich schaute nach links, eine Schachtel <br />
mit Abfall vor der Wohnungstür. Die ging nicht auf, ich läutete nicht, <br />
stellte mir nur ein Auge vor, das mir knapp über dem Kopf folgte, <br />
bis ich beim Eingang angekommen war, wie üblich im Laufschritt<br />
<br />
(Sonntag, 18.05.2003, 15.30 Uhr)<br />
<br />
(Erschienen in: <a href="http://www.amazon.de/Schreibzimmer-E-Richter/dp/3902113944/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1366990631&sr=1-1&keywords=schreibzimmer">Schreibzimmer, Edition Korrespondenzen, 2012</a>)
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2014-09-17T11:00:00Z
-
E-17 MATERIAL
http://earichter.twoday.net/stories/material/
1<br />
<br />
die blinde Gegenwart hockt<br />
auf der blinden Vergangenheit, hält<br />
Ausschau nach mir und all<br />
den anderen, die irgendwo<br />
immer hocken oder liegen oder<br />
sich schon aufgelöst haben als menschliche<br />
Struktur, nicht entmaterialisiert, sondern<br />
verfügbar als Material<br />
<br />
2<br />
<br />
ich atme jetzt, auf meinem venezianischen<br />
Bett neben einem zweiten, das leer ist, <br />
blicke auf geöffnete Türen<br />
bei künstlichem Licht von oben und <br />
rechts. Und ich weiß: wenn <br />
ich nach vorn geh, öffnet sich<br />
ein Raum, ein zweiter, dritter, davor<br />
ein Platz mit Stimmen und Schritten,<br />
und ein heller Glockenschlag, <br />
nur ein einziges Mal <br />
<br />
(2005, Venedig)<br />
<br />
(Erschienen in: <a href="http://www.amazon.de/Schreibzimmer-E-Richter/dp/3902113944/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1366990631&sr=1-1&keywords=schreibzimmer">Schreibzimmer</a>)
e.a.richter
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2014-06-10T11:00:00Z
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О РУЖІ
http://earichter.twoday.net/stories/465679393/
О ружі, що за ружі, що ружі чинять ружам,<br />
не знаємо того, що чинимо ми їм, це таємниця руж.<br />
за огорожами, в садах, як ніч, чорнющі ружі.<br />
вони вичікують, без жодних помислів про подарунок.<br />
<br />
Я думаю про чорну ружу, яка так темно й надчутливо<br />
звисала понад муром і над неторкнутим вологим ложем,<br />
давно недоторканна. Я думаю про вкриту лаком ружу, <br />
лакований букет для нього чорну вазу я придбав, в Ікеа.<br />
<br />
В Ікеа згадував я безліч руж на твоїх стінах, всі питання руж,<br />
які твого життя не зовсім стосувались:<br />
я таїну твою тобі залишив, однак для себе нотував у свій щоденник<br />
усі можливі виправдання про ружі і про те, що чинять ружі і чому.<br />
<br />
Геть педантично так, як ти плекала свої ружі, вся в сумнівах, як ти<br />
мої розпитування щодо руж сприймала. А якось, серед рапсового поля,<br />
я думав про жовтогарячі ружі, про море жовтих руж, і про твій дар<br />
життя цих руж єдиним поглядом знов оживляти на просторах дальніх<br />
<br />
(Зі зб. «Кімната для письма»))<br />
<br />
(Ins Ukrainische übersetzt von Peter Rychlo.)<br />
<br />
(Auf Deutsch <a href="http://earichter.twoday.net/stories/ei-05-was-rosen/">hier</a>.)
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2013-09-13T11:00:00Z
-
ТІЛЕСНІ НАРОДЖЕННЯ
http://earichter.twoday.net/stories/465679391/
з рота вродилося тільце моє,<br />
яке знов народило ще менших і т.д.<br />
<br />
Тоді я ще був з бородою,<br />
що темно обрамлювала моє обличчя,<br />
<br />
мав тугу шкіру, зовсім не зморщені губи.<br />
Коли я дивився на себе, то бачив, як зверху я ніби зникаю<br />
<br />
й знов повертаюсь у формі вроди<br />
милості статків, усе це було майбутнім.<br />
<br />
Я себе видихав, зовсім буквально,<br />
як мертвий, що знову народжує мертвих,<br />
<br />
і разом з наступним подихом<br />
я знов повернувся до себе, здається, без змін.<br />
<br />
Мої очі були розплющені,<br />
мій подих зрошував їх тонкими слізьми.<br />
<br />
Таким був мій сон,<br />
коли я мав двадцять літ, ex cathedra.<br />
<br />
(Зі зб. «Кімната для письма»)<br />
<br />
(Ins Ukrainische übersetzt von Peter Rychlo.)<br />
<br />
(Auf Deutsch <a >hier</a>.))
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-
EI-07 A POET'S PROGRESS
http://earichter.twoday.net/stories/audens-progress/
<p id="editor">
</p><p id="editor">
sein jüngster Ersatzliebhaber wollte ich nicht sein, <br />
auch nicht ein <i>bed-visitor</i>. Sein Bad hab ich <br />
nie geputzt, nie seine hundert Goldfische<br />
umgelagert, bin auch nicht in seine ausgetretenen<br />
Patschen geschlüpft, hab seinen klapprigen VW <br />
mit keinem einzigen Tropfen beschmutzt. <br />
<br />
Es gab keine bellenden Hunde in der Nacht, <br />
nur eine Unmenge Katzen, die nicht <br />
in die Notaufnahme mußten, wenn er weg war <br />
sie wurden verwöhnt, von den Nachbarn, <br />
von angereisten verwegenen Verehrern,<br />
vom Hausfreund, von verstorbenen Dichtern.<br />
<br />
Die Umgebung des Hauses, in dem er wohnte, <br />
war keine Mondlandschaft, sondern sanft hügelig <br />
zwischen Perschling und Donau, mit einer Bahn, <br />
die ihn schnellstens nach Wien bringen konnte. <br />
Und in der Nähe der Fichtenwald, der Tann,<br />
der ihm Natursex gestattete, urgriechische Anwandlungen<br />
dem Briten, in Specht- und Käfergesellschaft.<br />
<br />
Er pflegte sein Echsengesicht, blickte aus<br />
immerwachen Echsenaugen auf die transatlantische, <br />
die mitteleuropäische Nachkriegswelt. <br />
Es war überall gleich furchtbar wie immer, <br />
provinziell nur in diesem Land, das Niveau rapid gesunken, <br />
ohne Krawalle und Streiks, ohne Drogenkonsum.<br />
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Ihm war egal, wer seine Gedichte auswendig konnte -<br />
er schrieb Libretti, eins zu<i> A Rakes Progress</i> <br />
die gesungen werden mußten. Wenn die Oper,<br />
die Kulturbeamterei versagte, sang er sie selbst<br />
seinen Katzen vor, den ungerührten Goldfischen, <br />
wenn sein Liebhaber wieder einmal auf Tour war</p>
(Sonntag, 9.10.2011, 0.30 Uhr)<br />
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Siehe uach <a href="http://www.blogs.uni-osnabrueck.de/zuber_studyskills/files/2008/11/kirby1large.jpg">hier</a> , <a href="http://johngushue.typepad.com/.a/6a00d83451f25369e201347ff6f7c2970c-pi">hier</a> und <a href="http://en.wikipedia.org/wiki/W._H._Auden">hier</a>.
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2011-07-02T11:00:00Z
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