Montag, 7. November 2011

O-15 HYMNE AN DICH

ich dachte an dich, wie an keine andere,
oder eine, die ich in- und auswendig kenne.
Wie befremdlich: wir gingen nebeneinander,
und ich erkannte dich nicht.

Ich rief dich nicht an, vergaß
voller Absicht deine Telefonnummer.
Du erzähltest mir freiwillig deine Träume,
doch ich stieß mit Fragen nach, unerbittlich.

Deine Tränen amüsierten mich, ich schürte
den Mut zur Häßlichkeit, lobte zugleich
deine Ohren, Öhrchen: wenn du die Haare
oben hattest, Nadeln darin.

Riß sie aber immer wieder, wenn die Hand
den Polster verschob, stopfte sie, schon schlummernd,
in mich, erwachte mit ekligen Knäueln
auf der Zunge, Gewürge.

Wie oft erwartete ich neben dir den Schlaf,
zuckte zurück, wenn deine Zehen
zu bohren begannen, deine eisige Hand
sich zwischen die Beine schob, mich zwickte!

Ich konnte nur deine Zunge verdrehn,
meine Augen schließen, Belag auf Belag,
und das im Geruch nach Milch -
strömendes Euter, Lakenluft, brünstige.

Du wußtest, daß ich mit dem Schreiben
hinter dir her war: schrieb alles auf,
was du sagtest, tatst, nicht tatst, hättest
tun können, verbarg das Geschriebene,

kam aber in Gesprächen darauf zurück -
da lachtest du hell auf, mich verkleinernd,
die Mühe, die ich für dein Leben aufwandte,
sie sollte ja uns beide steigern, zu vergeistigten Dubletten!

Dann noch diese Statistiken, Tabellen,
die Vergleiche über Jahre gestatteten,
über Zeiten des Aufwachens, Einschlafens,
der Schlafdauer, Dauer von Tätigkeiten, Häufigkeit

des Verkehrs, Intensität, Hartnäckigkeit,
über Symbolismen, Andockversuche
an andere Leben in Gesellschaft und auch in der
Bettleseeinsamkeit. Und deine Manien!

Wanderaugen am Tisch, wischbereite Hände,
und Tadel für unwillkürliche Äußerungen,
Tadel für Furze, Rülpser, Flüssigkeiten
im Gesicht, klebrige Bodenstellen.

Dein Aberglaube: gabst dieses zu, jenes nicht,
Zählreime etwa, die so vieles abwenden konnten,
vorgestellte Hüpfbewegungen, auch die Anwesenheit
des Teufels, Genossen aus der Klosterschule, ironischen

Schattens über allem, Verdopplers, Verdünners,
Schlechtmachers, penetranten misanthropischen
Vaterverlängerers, Initiators der Liste deiner Phobien,
auf die du so stolz warst, die du noch ausbautest,

verbogst in eine fallweise rettende Lebensstruktur.
Tiere im Bett: alle hatten Namen, oft wechselnde,
konnten aus deinem Mund sprechen, mich auch
schlagen, in die Wange beißen, demütigen

zu Recht, wenn ich den Verweigerer hervorkehrte,
sardonische Seiten, Illusionen, poetisierende,
rohen Samengenuß. Nie kam meine Zunge dorthin,
wo du sie begehrtest. Nie hieltst du

so lange durch, bis ich wirklich zusammenbrach.
Ich fügte mich gern, verkörperte noch immer
den Wickelpolstermann, stocksteif, unansprechbar.
Irgendwann kam dann doch deine Hitze in mir hoch,

immer, wenn es zu spät war, mitten in deiner bleiernen
Müdigkeit oder in meiner kindischen Verhemmung.
Wer schenkte dir diesen schäbigen Männerpyjama?
Und woher kam dieser Stammbaum, der mich fast erschlug?

Riesenschachtel zwischen den Tellern auf dem Tisch.
Anstelle des Essens Zurückblättern in eine sehr schnell
angeeignete Familienvergangenheit: Geschenk
eines verrückten Archivars, aus der Manie

eines in Stalingrad Gefallenen mit Germanenüberschuß
in Blut und Hirn. Doch auf diesen Kopien
vereinigten sich unsere Namen schon vor Jahrhunderten
an einem noch nie betretenen tschechischen Grenzort.

Weder Treue noch Schicksal, weder Reue noch Spiel,
nur dieser idiotische Trost: wir könnten uns jederzeit wieder
an der Stelle treffen, wo wir, im Streit, aufeinanderstießen,
zum allerersten Mal: keine Sekunde vorher, keine danach

(Montag, 25.09.2000, 17.10)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

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