Erste Instanz

Mittwoch, 19. September 2012

E-16 IM HOLZKABINETT

wieder im Holzkabinett, dasselbe honiggelbe, wieder
am verschlungenen Fluß, mit dem scheinbaren See
zwischen zwei Wehren. Die Köpfe der Schwimmer festgehakt
auf einer trägen, braun und grün schimmernden Oberfläche.

Wer hier auch ruft - man hört ihn, man ruft nicht zurück,
es ist nur das Echo. Manchmal ein Steingesicht,
manchmal grüne Algen auf Stein. Manchmal auch -
und das ist nach den Gewittern nicht überraschend -

geschlechtlich ringende Schnecken mit steilen Mänteln.
Auch mit Geduld sind ihre Liebespfeile nicht zu erkennen.
Die Betrachter bohren ihre Finger in die kalkige Erde,
wagen die Vorstellung eines Lebens im Schneckenhaus.

Das Schloß leuchtet auch aus der Ferne. Grober Klotz
unter einem Wolkenliebesspiel zwischen erschreckender
Düsternis und blendender Leuchtkraft. Einmal Regen,
der an den Fenstern kraftvoll vorbeizischt, einmal Hagel.

Lektüre. Und daraus der Schmerz aus allen Details
eines maßlosen Geschlechtsverkehrs über viele Seiten.
Sowohl der fremde Mann als auch die fremde Frau sind in mir.
Auch das fremde Haus, die Dreieckssituation, die Obsession

im Detail, Zeitdehnung, der geschrumpfte Wahrnehmungsradius.
Einmal im Schneckentempo alle äußeren und inneren Häute
so aneinander gerieben, dass sich Elektrizität aufbaut, die diskret,
zugleich feurig die nächsten Tage beherrscht, sogar steuert

(Mittwoch, 13.6.2012, 14.06 Uhr)

Montag, 17. September 2012

E-15 VERHEISSUNG

„es gibt“ - und schon ist es aus.
„Es gibt“ - und schon dreht sich die Treppe
im Kreis, die tätsächlich existente,
18 Stufen, gewendelt, im Oberlicht, und ich,
heraufgehumpelt, hinunter und rauf,
im Finstern, um die drei Schlafenden
in ihrer menage a trois nicht aufzuscheuen.
Schön, immerhin, ohne Herzlosigkeit
mir gegenüber, und dieser Geruch, der diesmal
nicht auftaucht, nach Karbid.
Du schnüffelst, als würde das Paradies
auf dich warten, ein winziger Spalt offene Tür,
die du kennst, zum Zimmer, in dem du dahinsickerst,
als wärst du nur eine wolkige Wasserfigur,
gehalten vom Zusammenspiel von Flieh-
und Schwerkraft, etwas völlig
unanständig Denkbares, eine Denkspirale,
die dich schon im Erdgeschoß angetrieben hat.
Unten ein Blitzgedanke, oben die permanente
Gefahr, der du momentan entgangen zu sein scheinst.
Dein Fuß im Verband. Bald flach auf den Boden,
um Schwellung und Schmerz zu lindern.
Verheißung: die Füße entwickeln,
und dann wieder adern- und haarlose Glätte,
etwas von früher her Elegantes,
ein Wettlauf, bei dem Zeit keine Rolle spielt,
ein schmerzloser Luftsprung mit Landung
auf bloßen empfindlichen Sohlen.
Es gibt einen Körper, der alles abfedert,
auch die bedeutungsvollste Verheißung

(Sonntag, 27.05.2012, 1.50 Uhr)

Mittwoch, 2. Mai 2012

E-14 SCHLAF ODER SCHAF

mit schlafen ist keineswegs nur Schlaf gemeint:
ein Schaf, das sich aus dem Bett herauswühlt,
Schaf aus Wolle und Federn mit Maske,
etwas aus der Vorwelt Entsprungenes,
der Nacht, die erst am Morgen begonnen hat.
Nicht Schafähnlichkeit war der Gedanke im Schlaf -
haarscharfe Schaf- und Schlafbefreiung.
Ein Tier schweigt, ein Mensch schreit und schweigt.
Das Schaf ist kein Opfer, Opfer ist der Schlaf.
Es gibt keinen Schlaf ohne Schaf, kein Schaf ohne Schal,
keinen Schal ohne schlaffen Schlag.
Da ist mein Gesicht wie das wollene Schaf.
Das schaut mir aus dem Gesicht wie der Schlaf.
Kaum kommt das Licht, verschwindet das Schaf.
Jemand zieht mir die Maske vom Gesicht,
und niemand spricht mehr von Schaf oder Schlaf

(Dienstag, 1.11.2011, 23.11)

Mittwoch, 29. Februar 2012

E-13 29. FEBRUAR

zum Februar hin hält die Zeit langsam an.
Der Letzte ist zugleich die Mitte des Jahres,
deren gar nicht verfrühter Vorbote, schon
mit Frühlingsgestürm, Temperaturanstieg,
Regenschauern, Schatten und weiße Sonne.

Sprießen, Getriebe unterm Haus in dieser Erde.
Feuchtigkeit, Trockenheit, jähe Weiterentwicklung.
Wechselhafte Tage und Stunden in Sekunden. Schauder,
Erwartung, Hoffnung, auf alles gesetzt, auch Angst.

Heute noch nicht verloren, morgen vom Erdboden verschluckt.
Bis zur Wiederkehr eine Ewigkeit, zugleich nur ein Schnipser.
So durchlebt sich dieser Tag, schon angebrochen,
Punkt Mitternacht sein lautloses Ende. Oder Trompeten.

Dann schnell grüne Bäume, Bäume in Pracht, Bäume
mit singenden Vögeln, kotige, schrundige Wege,
die zuwachsen, frei laufende Hunde. Zikaden, grüne Felder,
Lieblingsblumen, Lieblingskraut, Efeu, Betäubung mit Geruchssinn.

Bach, Wehr, Baumhaus, Schneeglöckchen, Anemonen, Primeln.
Farn über mir, wächst mir durch Mund und Ohren. Im Augenausschnitt
rauscht der Himmel vorbei, ändert im Sekundentakt
die Farbe. Das Herz, noch ein sehr junges, hüpft und schreit.

Es wird ein gewöhnlicher Tag mit gewöhnlichem Essen sein,
zugleich ein Festmahl in freudiger Trauer,
trauriger Freudigkeit, Ächzen und Scherzen, Ironie.
Die Februargäste, die dann unten am Tisch sitzen werden:
morgen - im März - spurlos verschwunden, als wär schon Silvester

(Mittwoch, 29.2.2012, 8.44 Uhr)

Samstag, 18. Februar 2012

E-12 SCHMERZSEKUNDE

plötzlich der Schmerz, unerklärlich, sagst du,
ein kleiner Schmerz, von der Mitte her
unterm Nabel, eine Spanne darunter,
aber auch, und das ist nur ein Gefühl,

eine Spannung, die in die Breite geht,
nach rechts, auch nach links, nach unten,
sodaß im Kopf eine Wölbung entsteht,
eine gewölbte gekappte Halbkugel aus Haut,

glänzend, etwas wie Schwangerschaft,
schwanger der Bauch und der Kopf, sagst du,
der ja von hinten her auch mit einer Wölbung
nach vorn hin wächst, etwas für die Finger

beim Ansatz des Schädels bereit hält,
wo ein Finger, nicht derjenige, der mitdenkt
(es ist der mittlere) gleich über dem
Doppelhorn (eigentlich ein Hörnchen)

eine Delle vorfindet, sodaß ein Finger
beinahe hineinpaßt und jeder Denkvorgang
(theoretisch) auch von da hinten beginnen kann,
nicht mit dem Zeigefinger auf der Nase oder

auf dem Kinn, sondern im Nacken, inmitten
des Haars, das hier sehr dicht ist, auch dicht
bleiben wird, wenn den Vorfahren, der Mutter,
zu glauben ist, sagst du – plötzlich der Schmerz,

eine Nichtigkeit, die kurz einknicken läßt,
eine Schmerzsekunde ohne Zutun, ein Schmerz
aus dem Schlaf heraus, ein Fehltritt,
eine Fehlinformation, ein Alert,

der nicht bestellt gewesen war, und jetzt
wo der Schmerz hell aufklingt, ein Zeichen,
daß er barmherzig sein wird, etwas, sagst du,
mit einem nichtigen Höhepunkt, nicht erwünscht,

überhaupt nicht, eine undifferenzierte Warnung,
ohne eine solche verlangt zu haben, Wunsch
war vielleicht ein kleiner wabernder Gedanke,
eine Idee mit Zahlen, die Bereitschaft, mit

Zahlen, Wörtern und Daten zu spielen, ein Zahlenspiel,
das sich während des Vormittagsschlafs von selbst
im Vormittagstraum lautlos effektiv inszeniert,
festfrißt und sich dann der Erinnerung preisgibt,

ohne anhaltende Verstimmung, gekrönte Erinnerung
an einen Hauch schmerzhaften Einblicks
in die Ursache dieses Schmerzes von der Mitte her,
unterm Nabel, eine Spanne darunter, sagst du

(Montag, 13.2.2012, 10.38 Uhr)

Mittwoch, 1. Februar 2012

E-11 THERAPIE

unsichtbares Hirn – Gedanken, dauerhaft bloßgelegt – Demütigung,
so die Gedankenfolge, in einer andern Sprache, Frauensprache,
so süß, so schlimm. Ja, ein Gebrumm, Sirren, ein Kopfdröhnen,
schon zu Füßen der Therapeutin, hingestreckt, während sie
schön lächelt, von oben herab. Schönsein, das nur Erstarrung bewirkt.

Und Locke, blond quer über den Körper. Als so Geteilte enthüllt
sie das Hauptorgan des Diskurses genau: wie symbiotisch
der Klient kleben muß an ihr. Er klebt nicht, er wütet. Er wütet
aus sich heraus, dem pulsierenden Schulterblattschmerz,
der sich in ihre Wangen hineinwühlt, ihren Haarschwall.

Sie lächelt - so süß, so schlimm - durch ihn hindurch, gleißt
im Sonnenstrahl, der neben ihr hereinbricht, ihn blendet.
Bald im Abendglanz ganz ihr zu Füßen, als wär er ihr Sohn,
den sie mit Füßen treten kann, jederzeit. Als wär er ein Kleidungstück
zum An- und Ausziehn, und sie zieht es an, lächelt schön und

schlimm, stampft auf – das alles kränkt. Ihre Sprache kränkt,
ihr schönschlimmes Gesicht kränkt; auch daß sie brummt und sirrt,
als hielte sie seine beiden Ohren besetzt. Es ist kein Verweis,
sondern Verlockung, so süß, so schlimm, ihr zu Füßen hingedreht,
in seine Augen ihre Welt. Er riecht nichts, so lockert ihn seine Allergie.

Von ihren Schuhn gestreift, er beginnt den Diskurs, stellt ihren
Frauenheilkreis völlig in Frage. Sie steht über ihm, im Vorbeihuschen
zum Stehenbleiben verlockt, hochschwanger, entbietet ihm
einen Schluck ihres Fruchtwassers: Du mußt dich entscheiden,
tauch ein, tauch auf und geh! Er läßt sich bloßlegen, kränken,

seine Kränkung wie ein Zauber (im Zuber), der ihn stärkt,
die männliche Schulter, die er selbst ist, und oben balanciert
der Kopf, in dem sich ihr Schmerz bündelt, in ihrem aber auch
seiner, zugleich ein Gelächter, Theorie des glücklichen Ausgleichs,
so süß, so schlimm dessen Lobpreisung – endgültige Unterwerfung

(18.5.2011, 21.20 Uhr)

Samstag, 28. Januar 2012

E-10 TRAUM VOLLER TRAUER

abgewandt, mit angezogenen Knien
im Bett - ihr Kopf inmitten der Haare,
weit nach vorn gestreckt, sie als Ganze
ein geknicktes S. Möchte allein sein beim Weinen,

niemandem ihre Tränen zeigen,
nur Trauer fühlen, darüber nicht reden.
Das Letzte wäre eine zärtliche Anwandlung.
Der eine und der andere versteht sie nicht,

verstärkt nur die Scham. Verschließt sich im Bad.
Als Abgewandte wieder da, und ist –
nach diesen vielen entgangenen Augenblicken –
eine sich fremde, vorwurfsvoll brennende Gestalt.

Das im Traum. Danach eingeklemmt
zwischen zwei Frauen, und keine weint.
Mich als Entscheidungswilligen verstört hingegen
das überm Kopf hängende Gleichgewicht

(Sonntag, 11. September 2005, 3.40 Uhr, Venedig)

Freitag, 2. Dezember 2011

E-09 SIEBEN (ODER ZEHN) DINGE

Achtung, das ist ein höchst sensibles privates Unternehmen, das nie
jemandem öffentlich eine Abfuhr erteilt, auch nicht (1) „Lee Walker“,

der – für mich erstaunlicherweise – (2)„Ende des Jahres Darlehensfazilitäten“
vergibt, wobei ich anscheinend (3)„auf seine Neuen kunden“ zähle,

daher mich von (4)„auf Zwei Prozent“ in einem leider nur (5)„minimalen
Bereich“ profitieren lassen will: (6)„von 5,000 € bis maximal € 100.000.000“.

So etwas habe ich schon seit langem erwartet, wie jeder der ständig
Klassenlotterie spielt und nichts gewinnt. Dann sucht das Glück eben

einen anderen Weg, den speziellen über „Lee Walker“ zum Beispiel ,
der mich jetzt als Hans im Glück spazierengehen lassen will, vorerst, denn dann:

(7) „geben Sie sterben“, was ich gleich als „gehen Sie sterben“ lese, erschrocken,
und das inmitten von Abfall und Sonne (drei volle Mistkübel in der Sonne,

draußen vorm Haus): „gehen Sie sterben“, das hieße für mich: Stecken Sie
den Kopf in den Sack (oder Sand?) und warten Sie, was dann passiert: (8)„Wenn

interessiert, Wie unten dargestellt“. Kein Bild nur: (9)„Name ---- Amount ----
Dauer ---- Telefonnummer ---„. Das genügt. Und noch (10):„Grüße“. Ich grüße

zurück, „Lee Walker“, sehr herzlich. Was an brauchbaren Dingen da draußen wirklich
drinnen steckt – ich zähle sie nicht, nicht jetzt. So verzicht ich auf Glück und Gewinn

aus der einmal nicht überfüllten Mailbox und verlaß mich ganz auf Recycling aus dem
auf einen Wink hin polternd heranrollenden Container und Tauschhandel

(Samstag, 26. November 2011, 12.24)

Sonntag, 13. November 2011

E-08 SONNTAGS, ANMUT & WÜRDE

im Ganzen genommen egal, ob Dienstag, Mittwoch,
Montag, Samstag oder Freitag: auch heute, am
Donnerstag, besteht Hoffnung, daß der nächste
Sonntag noch erreicht wird, vielleicht ein fetter
(mit Fischfett, fettem Gefühl, samtigem Fettgewebe);

daß sich die Wettervorhersage prompt erfüllt
(Sonnenscheindurchbruch in weiten Teilen des Landes),
sich auch etwas – oder mehr - von der Anmut des
weiblichen Geschlechts neuerlich enthüllt, nicht nur eine
gewisse körperliche Basis, sondern gleich Biegsamkeit

(so biegsam in etwa wie die Anti-Silvio-Nackten in Kiew -
so wechselhaft unübersehbar präsent in den Medienhirnen)
und die sittliche Harmonie der Männer, auch ihre
Schönheit, die sich nicht nur in Reih und Glied marmorner
Statuen zeigt, in beharrlichen Leibesübungen, im Marathon

sexueller Bemühungen, auch in triefenden Wanderstiefeln
beim Durchmarsch durch die Donauauen,
im farbleeren Dickicht, im dumpfen Laubgewölle,
im Napoleongehege. So wird dem Charakter
schon im voraus ein wenig die Dichotomie

abgelassen, die Geschlechter nehmen die voneinander
aufgelesenen Spuren und Eindrücke wahr,
herbstlich getrimmt, als Austauschgeld - nicht unbedingt
traurig, womöglich spielerisch, Gehüpfe von einem
Standbein aufs andre, das eine Frau, das andre Mann

(Donnerstag, 10. November 2011, 16.33)

(Siehe hier und hier)

Montag, 31. Oktober 2011

E-07 DIESES BAD

Dieses Bad ist ein völlig gedichtloses Bad.
Es liegt zwischen Küche und Diele, der kürzeste Weg für den Transport
von Getränken und Speisen in die eine oder andere Richtung,
auch von unten nach oben, dinnen und draußen.

Dieses Bad hat eine Menge Kinder gesehen,
Kotze und Kot von Kindern, auch erwachsenen
Kindern, Frauenmädchen, Bubenmännern
und entschlossen versperrte Türen auf beiden Seiten.

Dieses Bad ist ein völlig gedichtloses Bad,
doch voller Gesichter: jede eigenhändig angebrachte Kachel
widerspiegelt jedes Gesicht, das je im erkennbaren Umkreis
lautlos oder lauthals schreiend aufgetaucht ist.

Dieses Bad ist ein Erinnerungsbad,
ein jahrzehntelang dunkel zuckendes Familiengeheimnis,
das sich auf ein einzigen brennenden Punkt zusammenschrumpft läßt:
den des gegenseitigen Erkennens, zugleich Verlassens

(Sonntag, 16.10.2011, 20.55 Uhr)

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