D-12 CHANTAL 1
zwischen Kasten und Decke geflüchtet,
hineingepreßt, Körperschaft, weiblich, nur
rechtes Bein, steif, im Strumpf, hochhakiger
schwarzer Schuh, zittrig, baumelnd,
puffartiger Halt, im Vorzimmer zum Bad,
wo das Video läuft, drauf sie, wie verrückt turnend,
in Blau, blauem Taft, Haare im Ostwind,
die Gummiband-Gliedmaßen verteilt im Raum,
Schuld-Tat, demonstrative: warum schreit sie nicht,
warum fällt sie nicht von der Decke, warum
gelbe Blüten, schon aufgeplatzt,
auf dem schneeweißen Bodenteich? Und für wen
diese Schmerzübung, zu wessen Bestrafung?
Paar, im Zuschaun blödböses Lächeln,
das sie zusammentreibt zu einem Schnellfick,
der ihre unbewußte Zeugenschaft ausnützt.
Chantal, dem Doppelbett, der Orangentapete
entwischt, dem ekelhaften Schwung der Lampe,
ins unwirtliche Versteck, zur Hälfte
jedermannsichtbar: nach der verzweifelten
Anprobe, deren Projektion auf die Zimmerwände,
blauer, roter Taft, Collier, Dekolleté,
Haarspray, Schminke, Stola: nichts paßt; nichts
rettet den Anlaß. Wir, jetzt davor, schauen auf,
knien nieder vor ihrem einbeinigen
Rumpf-Popanz. Gib uns ein Zeichen,
verrat uns deine wahre Pein! Gib uns
ein Zeichen, erzähl uns die Sekunden
in dieser selbstgewählten Finsternis, deinem
Fleischleibgefängnis! Wir locken,
löschen uns aus, in unserer unvoll-
kommenen Nachfolge; pausenlos
pulst das Herz, pulst eine ferne Stimme
im Blütenzauber, Regen der Geschenke.
So ist es: Büßerbereitschaft, die uns in flagrante
Ekstase treibt, aus der Einbildung
aller anonymen Blicke, die uns treffen müssen,
anfeuern zur maßlosen lebens-
rätsellösenden Selbst-Verleugnung
(Sonntag, 21.11.1999, 8.00)
(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)