T-04 TATIANA
Hätte ich die Mappe liegen lassen, wäre es ein Verlust gewesen. Hätte ich nicht zu schreiben begonnen, wäre es ein Verlust gewesen. Rechne ich in Verlusten?
Nein, ich habe in diesem Fall leichtsinnigerweise Tatiana als Figur gewonnen, auch deren Protokollanten, Ramirer. Ich wußte noch nicht, ob ich mit ihm Kontakt aufnehmen sollte. Es war ja nicht nur sein Name auf der Innenseite der Mappe vermerkt, sondern auch Adresse und Telefonnummer, mit dem Versprechen einer Belohnung bei Rückgabe. Wäre es ein Gewinn, diesen Mann in seiner Wirklichkeit kennenlernen? Würde es nicht genügen, mich nur in seine Aufzeichnungen zu vertiefen?
Immerhin: es gab ein solides Motiv – die zum Weiterstudium in den Westen gehende junge Russin. Tatiana ließ sich wohl von dem Versprechen auf ein besseres Leben in Westeuropa verlocken. Vielleicht fühlte sie sich nicht ihrer Ausbildung entsprechend entlohnt. Vielleicht war der Hauptantrieb, ihren unübersichtlichen privaten Verhältnissen zu entkommen. Die Tochter zu verlassen, diese den Eltern überantworten – welch unerträglicher Druck (oder: welch unerbittliche Verrücktheit) mußte da vorher entstanden sein?
Ich suchte nach einer Erklärung in Selbstdarstellungen von Russinnen, die sich über eine Agentur westeuropäischen Partner anboten. Doch die meisten gaben sich mit Ausfüllen von Ja-Nein-Listen zufrieden. Wenn die Gelegenheit zur Selbstbeschreibung bestand, gaben nur wenige von diese Frauen Gründe für ihre Ausreisewilligkeit an. Nur eine schrieb: „Ich beschloß, nach einem Lebenspartner im Ausland zu suchen, weil mich die Männer in meinem Land enttäuscht haben. Sie respektieren Frauen nicht, sie sind nicht romantisch und haben keine Ahnung, was Liebe ist.“
(2. Jänner 2007)