Dienstag, 21. Januar 2014

0117 - PESSIMISMUS UND ERFAHRUNG 2

2

mein herz ist ein stets schwer einzukalkulierender faktor.
bei jedem herzschlag folgt auf die systole der vorhöfe bei gleichzeitiger diastole der kammern die systole der kammern bei gleichzeitiger diastole der vorhöfe, nur das ist gewiß.
ich liege die ganze nacht wach, schreibst du, & mein herz hüpft mir, als wollte es sich selbständig machen.
die supermatratze unter meinem arsch ist ein folterbett mit abwechselnden hitzen & kälten.
ich sperre beide türen ab, weil ich angst habe, daß meine frau hier einbricht.
sie bricht auch ein, wenn sie nicht einbricht, hier herrscht laufend der zustand des eingebrochenwordens.
die kästen knacken, das küchengeschirr verschiebt sich.
der Geschäftsführende Vizepräsident schreibt mir eine freundliche karte.
es wimmelt von himmelsleitern, von denen immer wieder buster kanton rutscht, direkt in die hölle hinter der schlafzimmertür.
bisher hab ich mein herz nicht so beachtet, jetzt drängt es sich geradezu auf.
jetzt ist es ein hohlmuskel, in dem z. b. dieser tag völlig verschwindet.
ich fühle mich ständig beschnitten, obwohl mir nur gleiches mit gleichem vergolten wird, obwohl jetzt nur das eingetreten ist, was ich seit langem propagiert habe, allerdings unter ausklammerung der veränderten einschätzung durch fremde personen.
jetzt ist das ich von lächerlicher beschaffenheit, verletzbar durch & durch & daher unwichtig.
e. öffnet die tür zum laden & zwingt mich, in ihre kleider zu schlüpfen, die meisten sind von meiner mutter, sagt sie.
ich drehe mich um & sehe eine nackte flache brust, & das ist einen moment lang ekelerregend & im nächsten nur noch erregend, wegen des gleichzeitigen ekelgefühls.
soll ich in den grauen schmutz, der gar keiner ist, meine finger hineinbohren?
etwa in die grauen warzenhöfe, die beim zweiten blick gar nicht mehr grau sind, aber doch grau sein müssen?
es ist ekelerregend, auf dieser blassen haut diese art von hose, diese art von knöpfkleid in dieser art von rot: sowohl das herunterreißen als auch das bedecken sind keine auswege, das sehe ich ein.
ich gehe nicht hinaus, verschwinde auch nicht im klo mit dem zerbrochenen fenster, wo jederzeit einer der besucher, die hier unvermutet auftauchen können, hereinlangen kann: ich erinnere mich an ein spiel, wo ich, auf der klobrille sitzend, im dunkel immer nach der hereingeworfenen klorolle tasten mußte, nach hinten in die spitzwinkelige staubige nasse ecke, worauf dann die hinausgeworfene klorolle einen aufschrei provozierte, ein befreites auflachen, & gleich darauf kam sie wieder flatternd hereingeschossen, mitten auf meine stirn.
ich erinnere mich, beharrlich am fenster stehend, an die verschiedensten hinabstürzwünsche, als es so dunkel & blühend - DUNKEL & BLÜHEND - da unten war, als es so warm - WARM - heraufwehte, als die katzen da unten hinter dem fensterglas sich in zeitlupe weiterbewegten & dabei gar nicht schlichen, so als wäre nur für eine kurze zeit ein anderes tempo ihr natürliches.
der patient bin ich.
die mutter bist du, du mußt es sein.
dein haar ist weg.
auf deiner nase sind die poren zu sehen.
deine zähne sind zu kurz, deine lippen zu aufgeworfen.
deine oberschenkel zu dick & weiß, deine kniee zu fleischig.
ich bleibe noch eine weile, unentschlossen wie ich bin, in diesem statischen weltbild, wo die wünsche immer nach prag, rom oder sizilien zielen, wo mit den möglichen - MÖGLICHEN -zukünften in form von wirklichen -WIRKLICHEN - männern gespielt wird, wo die herzige kleine das glücksrad dreht, aber doch nicht ambitioniert genug ist, um dabei wirklich geschäfte zu machen usw. usf.

(15.-30.5.1972)

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