0120 - PESSIMISMUS UND ERFAHRUNG 5
ich kann mein GEHEIMNIS vergessen, schreibst du.
es ist wie mit dem startwort eines fliegenden teppichs: man verliert einfach den willen, sich selbst zu überprüfen, man wird sich gleichgültig in bezug auf das vorhandene.
meine verlassenheit, mein unverständnis, meine physische metaphysik genügen mir.
ich behandle mich absichtlich wegwerfend, ich verzichte auf die ärzte, die ja sowieso überlastet sind oder nur aufs geld aus.
der konjunktiv ist nun nicht mehr angebracht, ich leide wirklich, habe eine ungeheure leidenserinnerung.
meine gefühlsabstumpfungsmethode funkioniert nicht mehr, meine schmerzpunkte treten aus dem untergrund der haut; jetzt zeigt sich, was ich kann.
ich habe meine hose schließlich fallen lassen, meine erektion richtet sich direkt auf den zaun der nachbarn, hinter dem jetzt das feuer erloschen ist.
die nachbarn schlafen vor erschöpfung im rest ihres hauses.
sie hören nur mehr die schreie der getöteten tieren, müssen es, ihre zukunft besteht daraus, von schweinen zu träumen, die in FRACK & ZYLINDER in ihren betten liegen & sich sauwohl fühlen, die keine angst vor dem schlachtschußepperat mehr haben.
unsere nachbarn erinnern sich im traum nur an allen GUTE, WAHRE & SCHÖNE, an die fremdarbeiter aus der firestone-fabrik, die sie nicht mehr betrügen werden, an die großmutter, der sie nichts mehr zufleiß tun werden & die natürlich dann auch sie in ruhe lassen wird, an den garten, den sie nicht mehr den hühnern, sondern den kindern vom nebenhaus überlassen werden usw.
ihre träume haben zwangscharakter, sie leben sich im traum so auseinander, daß sie einander ABSCHIESSEN könnten, mit einem der stichmesser KÖPFEN.
mit freuden köpfe ich meinen mann, sagt die nachbarin, schlägt sich aber gleich betroffen auf den mund.
mit freuden setz ich dir das messer ans herz, an deine schlaffe brust, worunter dein schlaffes herz pumpert, schreit der nachbar, der schlächter, & will seinen traum nicht wahrhaben.
natürlich kenne ich die beiden nicht persönlich, was selbstverständlich ein gewisses mißtrauensverhältnis mit sich bringt.
so bin ich stets ein partisan, der auf dem eigenen dachboden die invasoren erwartet, der sich probeweise abseilt & den fluß an einer ungefährlichen stelle zu überqueren versucht usw. usf.
(15.-30.5.1972)
Trackback URL:
https://earichter.twoday.net/stories/0120-pessimismus-und-erfahrung-5/modTrackback