0127 - WIENER BLUT

Der Karneval dauert scheinbar ewig,
der Vorhang hebt sich, das Theater beginnt,
Moliere schmiegt sich in den Schoß seiner Mutter,
sie singt ein Kinderlied und stirbt,
der Holzschuhbaum leuchtet, die Eiche rauscht,
Gadda hat Angst allein am Berg,
sein Vater verfolgt ihn mit seinen Fäusten,
der Herr fährt in seiner Kutsche vorbei,
die Pächter frieren.

Der Karneval dauert scheinbar ewig,
das Schaf wird erschlagen, auch Gaddas Neffe,
sein Mörder verbeißt sich in seiner großen Zehe,
die Ziehharmonika spielt Wiener Blut,
das junge Paar feiert Hochzeit im Kloster,
der Preis dafür ist ein Waisenkind,
das Theater segelt im Wind bis zum Abgrund,
die Steuereintreiber retten sich aus dem Fluß,
der Vorhang hebt sich, das Theater beginnt.

Moliere hustet heftig hinterm Vorhang,
der König zeigt seine Macht, indem er lächelt,
der Olivenhain ist erfroren,
das Waisenkind wächst frierend heran,
das Radio im Wasser jault Wiener Blut,
Gadda kann weder lesen noch schreiben,
Elektrizität fährt ihm ins Hirn,
es leuchtet von Fremdwörtern,
der Karneval dauert scheinbar ewig.

Der Vorhang hebt sich, das Theater beginnt,
plötzlich kommt hinter den Masken Blut hervor,
die Ordnungshüter räumen auf,
der Herr fährt in seiner Kutsche vorbei,
das Waisenkind weint, es hat keine Schuhe,
Gadda fährt nach Deutschland, ins Paradies,
Moliere schleppt sich die Stufen hinauf, er blutet,
der Holzschuhbaum leuchtet, das Waisenkind kriegt Schuhe,
der Herr vertreibt die Pächter.

Der Karneval dauert scheinbar ewig,
Moliere stürzt von der Bühne,
er stirbt und schlüpft in den Schoß seiner Mutter,
der Holzschuhbaumstumpf leuchtet,
die Bühne kracht in den Abgrund,
der König wird geköpft, der Herr vertrieben,
aus allen Radios auf den Bergspitzen ertönt Wiener Blut,
Gadda sitzt davor, sprechend und schreibend,
der Vorhang hebt sich, das Theater beginnt.

(4.1.1979)

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