0128 - DER DISSERTANT
Nie wieder Ohropax, sagt K., nachher,
nie wieder nur Blutrauschen und die andern
Körpergeräusche, mühsam unterdrückt
durch absichtlich knackende Kiefer,
fast zehn Jahre lang diese unmerklich
vorrückende Zeit, ab und zu eine Zigarette,
ab und zu nützliche Schatten, die Frau
hinterm Küchentürglas, ihr lautmalend
geöffneter Mund, und nachts sogar
die Vorwarnung mit dem Licht am Gang.
So geht das wahre Leben, sagt K.,
an mir vorbei, vibriert weit
unter mir, und die Kopfhaut bebt,
die Exzerpte, Notizen wachsen,
die Niederschrift nimmt beharrlich zu.
Oft, wenn ich aufblicke, lassen sich Krähen
auf der Loggia nieder, fallen wie Kegel
auf meinen Wink neun Stockwerke runter
ins Kriegsspiel der Kinder,
auf die langsam auftauende Erde.
Und immer wieder, sagt K., träum ich
von einer Wiedergeburt: daß alle Fenster
aufplatzen, nachts, daß die Blätter
rausspringen mit einem Ultraschallknall,
von allen Türen ausgehend ein Sog entsteht,
daß ich mich endlich vors Haus wag, ungeschützt,
ohne Angstschweiß unter Menschen, in die Stadt,
um wieder, inmitten des alltäglichen Lärms,
sehen zu lernen, durch meine so schwer lesbare
Handschrift hindurch, was wirklich ist.
(8.1.1979)
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