0141 - 10. APRIL, 10 MINUTEN
treibt die Zeit, sechs Uhr,
der Nachbar oben pendelt
unentwegt zwischen Küche
und Klo, sechs Uhr eins,
der Morgenverkehr rauscht,
die neue Frau im Bett
träumt sich noch schnell
einen schrumpfenden Vater,
sechs Uhr zwei, Schrei-
orgien, Klavierübungen,
Krankheiten, Katastrophen
zwischen Wohnung und Ordination,
sechs Uhr drei, der Sohn
in einem fernen Haus
atmet die gute Luft
links ein, sie ist blau,
die schlechte rechts aus, gelb,
sechs Uhr vier, plötzlich
hat er eine Idee, kriecht
ins Schlafzimmer, kitzelt
den Freund seiner Mutter
mit einer Flaumfeder
zwischen den Zehen,
sechs Uhr fünf, daneben
liegt sie, schon wach,
unterm Tuchtentknäuel,
Wagner begattet sie,
sechs Uhr sechs, mein Vater,
hingegen, will immer wieder
die gelähmte Hand am Bügel
über dem Bett festkrallen,
sechs Uhr sieben, immer wieder
rutscht sie ab, bleibt tot,
und ich, in diesem Zimmer,
zähle die seltsamen Kratzer
an meinen Fingern, genieße,
verwundert, das Chaos,
sechs Uhr acht: Hefte,
Bücher, Zeitungen, Skizzen,
Hemden, Hosen, Socken,
ein Korkturm, ein mit Wolle
umwickelter Zweig, Lego-
Bausteine, ein Korbstuhl,
von selbst schaukelnd, sechs Uhr neun,
und am Schreibtisch gehäuft:
Rechnungen, Prospekte,
Medikamente, Manuskripte -
das alles ganz zufällig
Gesetz und Ordnung
meines jetzigen behauchten
Lebens, sechs Uhr zehn.
(11.4.1979)
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