O-03 GASSENKIND
nördlich von Wien, ruhiger Abend, stille Felder und Ställe -
kein Auszucken, Wiehern, Aufklatschen von Leibern,
keine Bettgewalten, keine brünstigen Dorftragödien -
bis das Gassenkind auftritt, möglicher Vorgänger,
oder irgendeines der eigenen Kinder, unerkannt in Lumpen,
italienisch, durch die Kruste auf der Haut lächelnd,
mit der aufgeklappten Kinderkappe als Klingelbeutel -
wer soll ihn füllen: der Pfarrer, die Köchin, die Ministranten?
Roter Himmel und bimmelnde Glocken; Kirchentür,
in der kein Schlüssel mehr steckt - es gibt kein Entkommen.
Unter der Kanzel fuchtelnd der Schmied; das feurige Paar,
vom Turm herabgestolpert, nimmt die Demütigung
dankbar entgegen, noch immer die Schläge der Kirchenuhr
im Ohr, das Mitschwingen mit dem Perpendikel:
Lippen brechen auf, Schwüre sprechen sich von selbst aus;
aus den Brüsten des Mädchens quillt Milch; Schwänze
zuhauf, die niemandem gehören; und Stolz, Schauder,
Ekel, aber auch Standhaftigkeit, beidseitige.
Dort oben ist ein neues Leben aufgetaucht:
weg von der Straße, heraus aus dem Staub der Kirche,
aus der Abhängigkeit von milden Gaben süßlicher Verführer,
den Vorbeterinnen oder dem gesamten Kirchenchor,
der nur selten die Töne trifft, aber Unterschlupf sucht
im Herzen Jesu, unter dem blühenden Kirschbaum,
selbst voller Blut, blutiger Gedanken und Werke.
Noch immer auf den Knien, unter den Augen der Apostel,
die von der Decke herablächeln - Würde und Brunft
(Do.12.12.1996)
(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)