O-03 GASSENKIND

da fährt die Eisenbahn bedeutsam durch die Gegend,
nördlich von Wien, ruhiger Abend, stille Felder und Ställe -
kein Auszucken, Wiehern, Aufklatschen von Leibern,
keine Bettgewalten, keine brünstigen Dorftragödien -

bis das Gassenkind auftritt, möglicher Vorgänger,
oder irgendeines der eigenen Kinder, unerkannt in Lumpen,
italienisch, durch die Kruste auf der Haut lächelnd,
mit der aufgeklappten Kinderkappe als Klingelbeutel -

wer soll ihn füllen: der Pfarrer, die Köchin, die Ministranten?
Roter Himmel und bimmelnde Glocken; Kirchentür,
in der kein Schlüssel mehr steckt - es gibt kein Entkommen.
Unter der Kanzel fuchtelnd der Schmied; das feurige Paar,

vom Turm herabgestolpert, nimmt die Demütigung
dankbar entgegen, noch immer die Schläge der Kirchenuhr
im Ohr, das Mitschwingen mit dem Perpendikel:
Lippen brechen auf, Schwüre sprechen sich von selbst aus;

aus den Brüsten des Mädchens quillt Milch; Schwänze
zuhauf, die niemandem gehören; und Stolz, Schauder,
Ekel, aber auch Standhaftigkeit, beidseitige.
Dort oben ist ein neues Leben aufgetaucht:

weg von der Straße, heraus aus dem Staub der Kirche,
aus der Abhängigkeit von milden Gaben süßlicher Verführer,
den Vorbeterinnen oder dem gesamten Kirchenchor,
der nur selten die Töne trifft, aber Unterschlupf sucht

im Herzen Jesu, unter dem blühenden Kirschbaum,
selbst voller Blut, blutiger Gedanken und Werke.
Noch immer auf den Knien, unter den Augen der Apostel,
die von der Decke herablächeln - Würde und Brunft

(Do.12.12.1996)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)
Sturznest - 2011-02-25 17:03

Schwänze
zuhauf, die niemandem gehören;


das ist ein ganz feiner satz.....eine zeile meinte ich, naturgemäß...ich will sie ja leider nicht mit Gegengedichten nerven

e.a.richter - 2011-02-26 08:12

Die Phantasie eines Pubertierenden an einem "heiligen" Ort.
Die Anregung zu diesem Gedicht stammt von einem Eintrag in A.Word.A.Day. Ich hatte damals die Seite abonniert und kam so zu vielen mir unbekannten englischen Wörter.

"This week's theme: eponyms -- words coined after someone.
ragamuffin (RAG-uh-muf-in) noun
Someone, especially a child, in ragged, dirty clothes.
[After Ragamoffyn, a demon in William Langland's 14th century poem Piers Plowman.]
"There were ragamuffins filled with certainties on every streetcorner and philosophers in every coffeehouse." Earl Shorris; A Nation of Salesmen; Harper's (New York); Oct 1994."
Sturznest - 2011-02-26 08:45

vielleicht hört das nie auf, das pubertieren, ich hatte gestern ein seltsames erlebnis mit einem sargwagen.
ich hatte den seltsamen eindruck dass der sarg von innen leuchtete, ein fast esoterisches erlebnis, oh aber da sei gott vor

e.a.richter - 2011-02-26 17:37

Pubertät

Meine Pubertät hat mit 11 begonnen: Oberlippenflaum, Achselhaare, Längenwachstumschub etc. Ich habe ein schlechtes Gedächtnis, also ist das, was ich jetzt vor mir habe, eine Phantasie. Zugleich ist der aktuelle Stand der Pubertät nicht zu leugnen: diese Ansätze einer Überflutung mit Ungewißheit, Ängsten, Vorfreude auf einen Wechsel, Umbruch; zugleich dieses Vergraben in Partikeln der Vergangenheit.

Was heißt: die ewige Pubertät ist partikelhaft immer anwesend, sitzt einem im Nacken. Alle Nöte, Erwartungen, Hoffnungen, alle Abstürze, Verzweiflungen, jede sexuelle, altruistische, misogyne oder menschheitserlösende Regung – das alles ist anwesend, gebrochen, und auch wieder wie von selbst in einem brennenden Zustand.

Ich wollte damals schnell älter werden. Die Zeit zwischen 14 und 18 erschien mir unerträglich lang. Es gab kein Entkommen aus dieser Not, ich stellte mir so oft zwanghaft vor: Nach der Matura. Nach der Matura das andere, das völlig selbstbestimmte, rauschhaft abenteuerliche Leben. Es ist passiert; weniger familiäre Zwänge, aber neue, die sich aus dem Wechsel in die Stadt ergeben haben.

Und dann nach einigen Jahren, in der „Spätpubertät“, die Erwartung: über den Berg. Ich wollte endlich über den Berg sein, das Studium beendet haben, in einer erfüllenden Arbeit tätig sein, in einem neuen sozialen Gefüge, mit einem permanenten Zugang zu allem notwendigen Wissen. Das geschah – ansatzweise - erst mit 25, eine Art Erlösung.

Ewige Pubertät wäre eine zyklische Überflutung mit Jugendlichkeit in dem Sinn, daß man tatsächlich immer wieder in eine Phase gerät, in der alles offen ist. Offener Ausgang. Aus dem Geschlossenen ins Offene; und von dort wieder –zum Schutz der Identität – für einige Zeit wieder ins Geschlossene, zurück ins „System“. So als bestünde eine Freiheit der Wahl, als könnte man sich das Beste aus den Lebensaltern aussuchen, dieses wiederbeleben, ohne sich die Zeit reversibel zurechtdenken zu müssen.

Sturznest - 2011-02-26 18:42

Ich kann mich daran erinnern dass ich zu Jesus betete und das Radio einschaltete, Kurzwelle hörte und ihn dort anflehte mir ein Zeichen zu geben.
Ich hatte damals zu lange an meinem Glied herumgespielt un plötzlich tauchte da etwas auf, was ich nicht verstand und was mir Angst machte und irgendwie war ich sicher, dass es sehr falsch war, was ich da getan hatte und ich wollte das Jesus mir helfen sollte, er sollte das wieder wegmachen, ich wollte nichts damit zu tun haben, aber da er mir kein Zeichen gab, war ich doch ein wenig enttäuscht, aber auch froh irgendwie.
Ich wollte auch auf keinen Fall achtzehn werden, vorher (ich hatte keine Anung wie) wollte ich mich umbringen.
Warum ich dass so sehr an diesem Alter festmachte, weiß ich noch immer nicht, ich weiß nur dass ich es verschlafen hatte, ich wurde achtzehn und es war genauso furchtbar wie ich es mir vorgestellt hatte
e.a.richter - 2011-02-27 09:27

Dazu drei Anmerkungen:

1.Ich habe einige Jesus-Bilder im Kopf, nicht das Ihre, das des Zeichengebers. Am tiefsten hat sich ein Öldruck, über dem Doppelbett der Eltern befindlich, eingeprägt, auf dem Jesus in einem Eichenwald wandelt. Der Problemlöser in einer heilsamen Umgebung, einem kleinen anscheinend sehr nahen Paradies. (Sie hatten ja auch einen Eichenwald.) Ich habe jetzt ein Foto davon gesucht, aber nicht gefunden.

2.Die Sexualität in der Pubertät war von völliger Unwissenheit geprägt. Alles, was damit zusammenhing, war sündig, gesundheitsschädlich, Körper und Gesellschaft zersetzend, also eine Gefahr. Das weibliche Geschlecht war doppelbödig: einerseits die Reine und Gute, die Marienartige; andererseits Maria Magdalena, die Sündige, die Verführerin usw.

Es gab so viele dunkle Geheimnisse, die nicht enthüllt wurden, nicht rechtzeitig, viel zu spät. So vieles, nicht nur in diesem lebensbestimmenden Bereich, zu spät, viel zu spät.

Jesus habe ich im Lauf der Zeit völlig von der Kirche abgetrennt. Aber er spielte keinerlei Rolle als Hilfsfigur bei den Verwirrungen mit Mädchen und Frauen.

3.An Selbstmordgedanken kann ich mich nur im Zusammenhang mit einer Serie über Jugendliche in der Zeitschrift „Kristall“ erinnern. Stimmung und Gedankengänge entsprachen dem, was in Abständen über mich heranbrach. Selbstmord war vor allem ein Gedankenspiel, darin aber eine Verheißung, ein verheißungsvoller Ausweg aus einem scheinbar unlösbaren Dilemma.
Sturznest - 2011-02-27 09:34

Wissen Sie, ob es Berichte, Literatur zu den letzten Tagen von Paul Celan gibt? Ich würde zu gerne etwas darin hineinschreiben, über die letzten Tage, aber ich weiß erstens nicht, ob ich dazu in der Lage bin, obwohl ich mich zweitens, sehr gut darin auskenne, was es bedeutet ein Verschwundener zu sein, das war Celan für mich und das war auch ich und das war auch mein Vater für mich, was für ein weites Feld.



PS: Mit meiner Grammatik steht es wirklich nicht zum besten, ich bin ein alter Hauptschüler und selbst in der Hauptschule war ich nicht der Beste, das konnte ich gar nicht, so abwesend wie ich immer wundere ich mich heute noch, dass ich den Sinn von Turngeräten verstand
e.a.richter - 2011-02-27 21:30

Mit Celan habe ich mich nie wirklich auseinandergesetzt. Daher ist er eigentlich ein gar nicht Aufgetauchter und kein Verschwundener, wie für Sie. Ich erinnere mich aber, voriges Jahr eine Sendung über das Buch einer Freundin, ... Eisenreich, gehört zu haben, auf Ö1.
Was meinen Sie mit der Anspielung auf sich und den Vater als Verschwundenen?
Sturznest - 2011-02-27 22:00

Celan muss tagelang, bevor er in die Seine ging, durch Paris herumgeirrt sein.

Das erinnerte mich an meinen Vater, weil er das ständig zelebrierte, das ist aber auch schon die Einzige Gemeinsamkeit der Beiden, das Verschwinden.

Auch ich bin eine Weile auf eine Weise verschwunden, in den Schulstunden zum Beispiel und auch später, als ich meine Alkoholkarriere in Angriff nahm.

Aber ich möchte mich hier nicht über mein Leben beschweren, es war nur etwas was mir eingefallen war, im Zusammenhang mit Paul Celan, meinem Vater und dann auch mit mir.

Und darüber hätte ich gerne geschrieben, ich würde alle drei Personen miteinander vermischen, aber dazu müsste ich etwas über die letzten Tage von Celan erfahren..

sie meinen das hier


Celans Kreidestern: Ein Bericht. Mit Briefen und anderen unveröffentlichten Dokumenten
e.a.richter - 2011-02-28 10:15

Das könnte Ihnen vielleicht weiterhelfen, Sturznest.
Sturznest - 2011-02-28 18:47

Da bedanke ich mich doch mal ...

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