EU-09 NIEMAND
Jeder, der hier ist, kennt mich nicht.
Einige reden, Kinder murmelnd
im Schlaf, mit dem Kopf auf dem Eßtablett.
Euro-Lille. Rauschen im Tunnel. Hin und wieder
Maschinengeräusch, Holpern und Hämmern.
Schlagend entfernen sich Gonesse, die Seufzer der Toten.
Schöner weißer Vogel, der aufflog,
um sofort Feuer zu fangen:
Schock, der alle erfaßt, noch auf dem Kontinent.
Wolframpartikel, das zwölfte Element.
Quarks, Leptonen, Standardmodell:
Billionen Neutrinos, die mich sekündlich durchblitzen,
auch im Rückblick durch die Jahrzehnte,
auf Nietzsche, den Jungen: plötzlich sitzt er hier neben mir,
unmerklich einem Netzhaut-Sternchen entsprungen.
In keiner Nacht des durchsickernden Wahnsinns,
in keiner Postkutsche im Sturm, wie er.
Kein Mensch wie er, nicht Dynamit,
ohne heftiges Erbrechen, nur unter Wasser, im Tunnel.
Etwas Druck in den Ohren, man muß schlucken.
Nicht auf dem Markusplatz, ohne Militärmusik, Austern.
Auch kein Weinender
zu Füßen eines zutode geschundenen Pferds.
Nicht abend-, schattenwärts -
nach Westen, hinein ins vorweggenommene Licht.
So durchsticht die Poren Luft,
sammelt sich als Schwimmkörper darunter.
Kein Triumphzug durch die Waggons
unter einer unsichtbaren Narren- oder Schilehrermütze.
Und die Schwarze Madonna, Mitbringsel aus Brüssel,
die in meinem Wachtraum lächelt,
aus rosa umrahmten Augen,
wird nicht meine Pflegerin sein.
Niemand, den ich kenne, ist hier.
Jeder, der hier ist, kennt mich nicht.
Völlig unspektakulär der Durchstoß:
Ashford, Gebüsch, Felder in Streifen.
Ruhiger Horizont,
besetzt mit Frauen
(Donnerstag, 2.8.2000, 12.55 Uhr, Eurostar, nach Ashford)
(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)
(Blick ins Nebenzimmer: Nullo nullo 11)