D-23 GERÄUSCH
um so mehr eines war: Höschen
abgestreift, unterm Schweigekleid
vor dem Mann, Vater, von der Frau,
Mutter, die sich vorbeugt in einem Rondeau
um einen fingierten Brunnen herum,
Lusthaus, von der Tochter,
die lauscht und sieht, um dieser Szene
Schärfe, Schmach, Rausch
zu nehmen, auf sie projiziert.
Im Brunnen, in dem sich nun beide spiegeln,
Vater&Mutter, von dem hastigen Aushauch
zerdellte Gesichtsflächen. Und über ihnen,
an der Innenwand ihres Tempelchens,
in Ovalen oder Lichtdurchlässen
in gnadenlos überschwenglichen Farben
Porträts der Geschwister, Endlosreihe,
die auch fremde Familienzüge inkludiert und variiert,
als würde jedem Samen dieses Mannes, Vaters,
ein wahrer Mensch entsprungen sein –
nun allesamt verdammt, sich einzuschwärzen
mit jedem neuen Lidschlag.
Rotschwarzes quillt heraus, breitet sich aus,
verdrängt das Quecksilberlicht
aus ihrem Traumraum – plötzlich
eine rotschwarze Fontäne,
die lautlos die Kuppel durchsticht,
sie mitreißt und immer weiter nach oben trägt,
tanzend balanciert, mit diesem Geräusch,
das keines sein wollte,
sie umso mehr erschüttert:
Nun wölbt sich der Boden, drückt hinauf,
hebt sie, die Tochter, empor
auf einen höheren Ausguck,
bis sie die beiden, Vater&Mutter,
mit einem Vogelblick im rotschwarzen Schlamm,
im ausgeronnenen, nur schlaff wabernden Bett
erfaßt, ihn, den Mann, Vater, völlig flach,
nur Gerippe, Haut, Hunger- und Leidensblick,
die Frau, Mutter, hingegen ein federleichtes
Mädchen, schimmernd, quicklebendig,
noch immer ihr Ebenbild.
Ihr verzeiht sie mit einem Mal alles –
jedes böse Wort, jede Strafpredigt,
ihm, dem Mann, Vater, nichts:
keinen einzigen aufmerksamen Blick,
kein romantisches Zu-Sich-Winken,
keine vermeintliche heimliche Zärtlichkeit,
keinen unschuldig tuend geraubten Kuß.
Er sollte nur mehr der Stoff sein,
aus dem sich Weiblichkeit erhebt
und stärkt, die Frau, Mutter, und sie selbst;
Hülle, in Zukunft ohne jede
männliche Energie: schlottriger Vorhang,
den sie zerreißt und gleich wegwirft
(Samstag, 17.7.1999, 0.50, Chernex)
(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)