D-24 KLEINER MAMCO-WAGGON
auf einem Friedhof, an einer Wand
aus Grabsteinen: so zeigt es ein Foto;
dann in einem Koben aus rohem Holz,
innen geweißt, in einer Reihe von Kuben,
inmitten einer sonst leeren Fabrikshalle.
Beschütz mich vor meinen Wünschen!
Und draußen über den nahen Dächern
auf einer Leinwand die Köpfe des Paars,
das sich zugleich anblickt und aneinander
vorbeistarrt, lächelnd auf etwas unsichtbar
Fernes oder Nahes hin: auch ihr Zwillingsbild
in dem Korridor weiter unten,
auf heftige Rot- und Blautöne reduziert,
gibt keinerlei Auskunft über die Qualität ihrer Intrigen,
Verzweiflungen, Tag- und Nachtexzesse.
Beschütz mich vor meinen Wünschen!
Jetzt in dem Koben ist der grüne Waggon
schräg abgestellt in nordöstlicher Richtung,
aufgeschlagen zum Dreiflügel-Altar
die Türen. Und drinnen die Bücherei
irgendeines Lebens, das auch meines sein könnte,
wäre irgendetwas in mir dazu bereit.
Beschütz mich vor meinen Wünschen!
Wohn- und Wahn-Archiv, von wem auch immer
zusammengetragen, zu welchem Zweck –
ist schnell zu umkreisen, zwingt bald zur Einbildung
eines Rundumauges, das alles, Innen und Außen,
mit einem einzigen Blick erfaßt und durchdringt:
zu einer Unzahl winziger Annäherungsversuche
mit Verschiebung Verschachtelung Tiefe Schleife
wie in einem einzigen Zug.
Beschütz mich vor meinen Wünschen!
Beiläufig verfinstert, dieses Wandergesicht
beleuchtet sich ganz von selbst. Beides,
Lichtflecken, befremdliche Schatten, erlöschen
mit der jähen Erinnerung an einen Raum,
in dem Schalter im Dunkel blinkten, wieder
und wieder, die Menschen schemenhaft
auftauchen ließen, Männer mit blutenden
Kopfwunden, Beinverbänden, verbrannter Haut,
Frauen mit verklebten Milchbrüsten.
Beschütz mich vor meinen Wünschen!
Der Koben ist offen, der Waggon lädt ein,
wetzt trotz allem hinter dem Betrachter her,
keucht, heult und glüht
(Sonntag, 18.7.1999, 8.15, Chernex)
(Mamco ist das „Musée d´art moderne et contemporain“ in Genf.)
(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)