Samstag, 2. März 2013

DB-84 (30) (Rechts gegenüber)

Rechts gegenüberfolgt ein noch siegreich besetztes Haus, dessen frische Farbe deutlich von den verrotteten Fassaden der übrigen Häuser absticht. Keine kriminelle Fluchtburg für Spekulanten. Danach Häuser mit teilweise kaputten Fenstern. Häuser mit abbröckelndem Verputz. Häuser ohne Eingangstüren oder mit verrosteten Türflügeln. Häuser mit verstaubten Auslagen, fettigen Scheiben, hinter denen nur ein Schraubenhaufen liegt, ein Stapel Schmierseife oder ein Bündel Plastiktaschen, vollgestopft mit alten Kleidungsstücken.

Nach links in die Naunynstraße. Zwei Plastiksessel, auf die eine zerschlissene Ledertasche plaziert worden ist, erscheinen Stefan als eine höhnische Aufforderung zum Niedersetzen und Ausruhen. Eine Auslage mit Fotos von türkischen Männern, türkischen Paaren, türkischen Familien, Teller mit und ohne Goldrand, in der Mitte ein Farbfoto. Leider nicht zu vermieten ist über dem zerschrammten Tor des Hauses Nr. 3 8 zu lesen.

Am Oranienplatz ein ausgebrannter Doppeldeckerautobus. Ins Blech eingraviert: Skins verreckt!

Um die Ecke ein besser erhaltenes Haus, dessen Feuermauer ein Gemälde ziert. Aus den Fenstern eines Gebäudes, hinter denen jeweils Paare starr herausblicken, wächst vor einem blühenden, haushohen Baum ein riesiger Arm mit einer Faust, die eine überdimensionale Spritze zerschlägt; rechts darunter ein grauer Atommeiler, ein Schornstein, eine Rakete mit einem roten Quadrat, ein blutbeflecktes Schild mit der Aufschrift Ruhe.

Stefan erreicht jetzt den Leuschner Damm, eigentlich eine Mulde, in der sich Schneewasser sammelt. Dahinter die Mauer, die West-Berlin umschließt und hier parallel zur Waldemarstraße verläuft. Rissige Fahrbahn, Schneereste, Rinnsale. Leichte Sonne kommt durch die Smogdecke.

An der Ecke zur Luckauerstraße ein betonfarbener Kirchenkasten, dessen Außenwände ebenso mit Namen und provozierenden Aufschriften besprüht worden sind wie die Mauer, die etwa in der Höhe zweier aufeinanderstehender Männer eine Betonröhre aufsitzen hat.

Stefan besteigt das Eisenpodest, das plötzlich vor ihm aufragt, um von dort auf den dahinter liegenden Streifen und die zweite, hier weiß gestrichene Mauer und die davor liegenden Panzersperren blicken zu können. Ehe er sich entscheiden kann, ob er den Wachtturm mit den aus Ferngläsern auf ihn schauenden DDR-Grenzsoldaten fotografieren soll oder nicht, wird er durch ein metallisches Klirren aufgestört. Um die Ecke vor ihm biegt ein gepanzertes Fahrzeug. Auf ihm ein Alliierter, wahrscheinlich Amerikaner, hinter einer Konsole, auf der ein drehbares Maschinengewehr befestigt ist. Als er Stefan auf der Plattform wahrnimmt, schreit er dem Fahrer etwas zu, der darauf krachend herunterschaltet. Der Schütze hält sein MG direkt auf Stefan gerichtet, der durch sein Teleobjektiv die Absicht des Mannes zu erforschen versucht. Der Soldat nimmt den Finger nicht vom Abzug.

Stefan bekommt plötzlich Angst und duckt sich. Es könnte sich um einen Verrückten handeln, der die Pappkameraden satt hat; um einen verkleideten agent provocateur. Der Schütze grinst und hält den Fahrer zum Weiterfahren an. Bevor das Fahrzeug verschwindet, dreht er sich nochmals um und hebt die Hand zum Victory-Zeichen.

Knieweich stolpert Stefan von der Plattform. Aufgebracht tappt er weiter, jetzt erst recht nicht ablassend von der Absicht, den Rand der Welt von dieser Seite zu erkunden. Häuserruinen, bewohnte Häuser. Schilder, die auf Englisch, Russisch, Französisch und klein auch auf Deutsch vorm Verlassen des amerikanischen Sektors warnen. Leben lieben sterben. Es lebe die illegale SED. Hi Caroline your name is on the wall. Liebe die Sonne. Fuck SS 20. Lilli Berlin.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

***

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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