Montag, 4. März 2013

DB-85 (30) (Stallschreiberstraße, Alte Jakobstraße)

Stallschreiberstraße, Alte Jakobstraße. Ein Schlauch zwischen zwei Mauern, rechts die aus grauem Beton wie bisher, links eine aus roten Ziegeln, oben mit Stacheldraht bewehrt. Bunt bemalte Panzersperren. Und oben Leuchten, die diese Hindernisbahn nachts in grelles Licht tauchen würden.

Blackout, Blackout. Josef, mit zerschmettertem Hinterkopf, liegt vor Stefan im Schnee. Volltrunken ist er auf den Balkon seiner Wohnung getreten, hat sich, ein Studentenlied singend, auf das Geländer gesetzt, ist abgerutscht. Er bewegt sich nicht. Er gibt keinen Laut von sich. Stefan sieht, wie sein Blut vom Schnee aufgesogen wird. Mehrmals schnauft und quiekt in Todesangst ein Schwein. Der Hammerschlag auf den Kopf hat es nicht betäubt. Seine Reflexbewegungen haben den Stich von der Halsschlagader abgelenkt. Josef, nun wieder lebendig, in Gummistiefeln, drischt mit wütendem Gesicht auf das Schwein ein. Gleich ist es tot, schon blaugefroren am Boden, während Josef sich schwitzend und mit glücklichem Lächeln aufrichtet, seinen Fuß auf dessen Unterleib setzt und mit dem blutigen Messer winkt. Bevor er aber auf Stefan zugehen und ihm die Hand zur Begrüßung geben kann, muß er sich mit einem jähen Ruck abwenden und übergeben.

Blackout, Blackout. Stefan hat sich bereits bis zur Zimmerstraße vorgearbeitet. Blöde Mauer. Mauer go home. Ich komm rüber. Ein schwarzes Strichmännchen steigt auf einer Strichleiter bis zur Mauerkrone hinauf. Lieber rot als tot. Als Stefan einer weiteren Plattform gewahr wird, in unmittelbarer Nähe des Übergangs Kochstraße, wo betrunkene Jugendliche provozierende Sprüche brüllen, läßt er das Haus am Checkpoint Charlie links liegen, steigt in die nächste U-Bahn und kehrt in die Wohnung Josefs zurück.

Unter der Dusche überfallen ihn die Schatten Lenas, Julias und der Phosphoreszierenden Frau. Er will Lena herausfiltern, um zumindest in Gedanken bei ihr zu sein. Aber sie wird von einem Bild aus dem U-Bahn-Schacht verdrängt: Dort ist ein Mann in einem schwarzen Ledermantel gestanden, völlig bewegungslos zwischen den an ihn Vorbeihastenden, den kurz Stehenbleibenden, ihn kurz Fragenden, ein Ledermantelmann, der seinen Kopf völlig mit Leukoplast verklebt hat, sodaß nur zwei Schlitze für die Augen und zwei kleine Löcher zum Atmen offen geblieben sind. Leukoplast bedeckt seinen Hals, seine Brust. Mit Leukoplast sind auch seine Hände, seine Beine, seine Turnschuhe umwickelt. Schließlich geht er mit abgehackten Schritten auf Stefan zu und bleibt in etwa einem Meter Entfernung vor ihm stehen. Er blickt ihm in die Augen, wortlos, ohne mit der Wimper zu zucken.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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