T-08 TATIANA
„Traum, der damit endet, daß ich – mit einer weiblichen Person! – auf einen Berg steige, und auf einmal öffnet sich eine Landschaft, ein weites Tal, und darin liegt ein Dorf im Sonnenlicht. Es muß aber Winter sein, weil jemand – eben diese weibliche Person – sagt: Ich weiß nicht, ob wir es schaffen, diesen steilen Berg hinunterzufahren. Schon vorher bemerkt, daß ich weder einen Fotoapparat noch eine Videokamera mithabe. Hatte aber sofort Lust, diesen Blick auf dieses gleißende Tal aufzunehmen.
Schließlich durch eine Öffnung in einem Felsen und plötzlich am Meer. Da ein Häuschen mit einem Liegeraum. Darin bereits Menschen, Paare in Schlafsäcken auf Pritschen. Eines neben mir (und meiner Begleiterin) in einem Schlafsack. Und ich, winterlich angezogen, neben meiner Partnerin, auf dieser Pritsche, schaue durch ein großes Fenster auf das Meer hinaus: ruhiges, hellblau schimmerndes Wasser.“
Auffällt, daß Ramirer Tatiana nicht beim Namen nennt. (Er hätte ja die Gelegenheit dazu gehabt, auch wenn ihm beim Erwachen nicht klar gewesen war, ob es sich „tatsächlich“ um sie gehandelt hatte bzw. mit ihr eine eindeutige Verbindung herzustellen gewesen wäre.) Er anonymisiert sie, als wäre das eine Antwort auf die Art, wie Tatiana am Tag davor mit dem Traum von ihm umgegangen ist.
Sie wollte ihm gegenüber ihre Traumbilder nicht offenbaren. Eine Form von Koketterie? Zurückhaltung? Ihre Botschaft versteckte sie in der Andeutung, daß sie sich so intensiv mit ihm beschäftigte hatte, daß er in ihre Traumwelt eindringen konnte. Er hingegen enthüllt sie, zumindest sich selbst gegenüber. Aber es findet sich kein Hinweis, daß er Tatiana diesen Traum erzählt hat.
Ein Glücksbild! Doch vielleicht dachte er, er würde sie damit verschrecken, gar abstoßen oder zumindest in einen Konflikt bringen, den er ihr in dieser für sie sowieso sehr belastenden Situation nicht auch noch zumuten wollte.
Während die „weibliche Person“ Zweifel an der gemeinsamen Kraft äußert, den soeben bestiegenen Berg „hinunterzufahren“ (wäre es nicht naheliegend gewesen, das Hinauffahren bzw. –steigen als den anstrengenderen Teil zu betrachten?), ist er damit beschäftigt, diese Situation zu dokumentieren. Heißt das, daß er bereits an die spätere Sentimentalität denkt, die ihn durchdringen wird, wenn er sich an diesen Traum, als eine vorweggenommene, aber möglicherweise nicht ausgelebte Zukunft, erinnert?
Von oben, aus der Vogelschau, auf ein Tal, das sich sonnenbeschienen ausbreitet! Kein weiteres Wort vom Genuß, sondern die nächste automatische Erfüllung: durch eine Felsöffnung gelangt der träumende Ramirer ans Meer! Das zählt jedoch nicht, sondern das Häuschen mit Liegeraum, als sei genau das das Ziel des Aufstiegs, der Abfahrt und des Durchdringens der Felsen-Scheidewand gewesen.
Ruhen im Verborgenen, jedoch in Gesellschaft anderer Paare! Schimmern da Erfahrungen eines Bergsteigers oder –wanderers durch, der gewohnt ist, im Schlafsack zu schlafen? Ist die Gesellschaft anderer Paare erwünscht oder nur ein Vorwand, der ihm erleichtert, eine Nacht mit der „Begleiterin“ zu verbringen?
In Anoraks usw. muß man einander nicht berühren, kann aber einander nahe sein, wie diese fremden Paare. Man könnte den gemeinsamen Blick aufs Meer als die „Ruhe nach dem Sturm“ betrachten. Alle Anstrengungen, zusammen etwas zu unternehmen, führen zu einem gemeinsamen geschützten Ruhen in Gegenwart anderer, nur durch Glas von einer bewegten Außenwelt getrennt, die einem auch wie eine Filmprojektion erscheinen könnte. Woran Ramirer seine Gedächtnisschwäche gehindert hat, das nahm ihm ein anderer ab: ein weniger Vergeßlicher, ein vorsorglicher Realist.
(7. Jänner 2007)