Mittwoch, 17. September 2014

SZ-01 SCHREIBZIMMER

hier fuhr ich weg, nachdem die Putzfrau gekommen war,
ausnahmsweise an einem Sonntag, was mich im Vorhinein
schon mit einer gewissen Unruhe erfüllt hatte, auch Scham:
ich schäme mich tatsächlich fast immer ein wenig,

wenn sie in meiner Gegenwart putzt, auch wenn ich
ihr dabei nicht zusehe. Ich überlegte, ob ich nicht
schon vorher wegfahren sollte, fand das aber albern
und blieb, bis sie läutete. Sie läutet immer, um auf sich

aufmerksam zu machen, obwohl der Schlüssel in einem Gefäß
bei der Eingangstür liegt. Ich hörte, wie sie das Rad abstellte
und jemanden grüßte. Sie läutete, ich reagierte nicht. Erst
als sie schon im Bad stand, schob ich die angelehnte Tür

des Schlafzimmers auf und stellte mich vors offene Bad.
Sie trug bereits ihre gelben Arbeitshandschuhe, sprach
bedauernd darüber, dass sie noch immer keine eigene Unterkunft
gefunden hatte, allerdings auf eine Gemeindewohnung warte

und währenddessen alles Angebotene in Kauf nehmen würde.
Ich schlug ihr ein Essen in einem Lokal in der Nähe vor, aus Anlaß
ihrer Schtaasbiagschaf. Manchmal sagte sie auch Schtaasbüaga,
Schtaasbiaga oder nur Biagschaf. Oft halte ich sie von der Arbeit ab,

um mit ihr zu reden, schon wegen der neuen Wörter,
die von ihr zu lernen sind, ihrer ureigensten Grammatik.
Noch immer denke ich daran, mich mit ihr einmal zu treffen
und Sprachaufnahmen zu machen, wegen ihrer ständig

in Bewegung befindlichen Deutschsprachwortbildung.
Also genug Grund sich zu schämen, wenn sie Staub saugt,
Staub wischt, Fenster putzt, alles in der Küche und im Bad
Befindliche zur Reinigung in ihre behandschuhten Hände nimmt.

Gestern lud ich sie gleich auf einen Kaffee oder Tee ein.,
Und danach: Apfel oder Kuchen? Und wie so oft sagte sie: Schpäta,
noch Oawat. Ich sagte: Tschüß, nachdem sie erwähnt hatte,
dass auch ihre zweite Tochter die Biagaschaf anstrebt,

jetzt, nachdem sie von ihrem Mann, der ein Jahrzehnt –
rauchend und fernsehend – die Scheidung verhindert hat,
endlich weg ist. Im Auto war zuerst nicht klar, ob ich
zum Training oder gleich zum Schreibzimmer fahren sollte.

Ich übersah dort den Staub auf dem Fensterbrett, die staubigen
Gläser, die Flasche mit dem fast farblosen Cola, die Staubschlieren
auf den Scheiben, den Staub und die Flecken auf dem Boden.
Zuerst musste ich Zeitschriften und Bücher vom Bett entfernen.

Dann zog mich aus, legte eine Decke und zwei Pölster
auf die bloße Matratze. In der „Krone“ bekam ich prompt
14 Punkte für meine Selbstkontrolle, 12 für meine Neigung
zum Genießen, was mich höchst erstaunte, aber nur 8

fürs Sich-Gehen-Lassen. Außerdem las ich noch
einen der stets lehrreichen Artikel der Gerti Senger. Diesmal:
Wie schnell ein Mann kommen soll. Was es bewirkt,
wenn er zum schnellen Orgasmus aufgefordert wird.

Ich erinnerte mich an einige Frauen, bei denen ich ähnliches
erlebt hatte. Eigentlich nur kontraproduktive Erfahrungen:
zuerst das Ausdauertraining, so lange, bis es Spaß machte;
dann – und das war gewiss keine Wahl – ab und zu solche,

die entweder nach kurzer Zeit kamen – vielleicht das nur spielten –
oder auf längeren Sex überhaupt gar keinen Wert legten.
Dazu fiel mir gleich das Gegenbeispiel ein, eines, an das ich
bei solch flüchtigen Reminiszenzen immer denken muss:

Schriftstellerin, die DDR-Frau – damals für mich – in Person.
Sehr dünnhäutig, sehr labil, frauenpflegerisch, aufgebaut
von Volk und Welt, ihr Werk über fünf Jahre lang finanziert
und auf Lesbarkeit zurechtgestutzt. Wohnung beim Alexanderplatz,

Laube in Adlershof, weit draußen. Wie sie dort kochte, wie sie
Weniges viel erscheinen lassen konnte. Wie sie mich scherzend
durch den Osterwald zog, über stromführende Schienen.
Sie kam schon im Linzer Hotel, noch in der ersten Nacht,

mehrmals, auch für sie überraschend. Und die anderen Male,
in ihrer Plattenbauwohnung im ersten Stock, in ihrem kurzen,
viel zu harten Bett: sie hielt durch trotz ihrer oft eingetretenen
unerklärlichen Ohnmacht. Sie genoss es und trieb es voran.

Erstaunlich, dass sich jetzt grad das, was sich mehr in Briefen
als am realen Lebensort abspielte, gleich in den Mittelpunkt
gerückt hat. Erstaunlich, wie wenig Konkretes – Gerüche,
Gefühlsintensität, unwiederbringliche persönliche Details –

von Ehen, Seitensprüngen und Abenteuern verschiedenster Art
geblieben ist. Erstaunlich diese völlig unerwünschte Schrumpfung
auf eine Gefühlsminiatur, ein Konzentrat, in dem sich so vieles
mischt, zu dieser Gefühlseinheitsfarbe, Blaurotgrüngrau.

Bedenkenloses Vergessen durchzieht die Tage und wird beklagt,
zugleich auch mit einem gewissen Genuss gefördert. Ich schaue
nicht zurück, so die Prämisse. Ich schaue zurück, doch nur kurz,
um mich des Zurückschauens vorsorglich zu entledigen.

Im „Standard“ las ich über zwei Arten, Krieg zu führen –
jene der Briten und die der Amis. Die Amis töteten
Frauen und Kinder, um die Bewohner zu schocken
und so leichtere Durchfahrt zu haben; die Briten

schossen zuerst in die Luft, dann in den ersten Reifen,
in den zweiten usw., bis sich das Auto nicht mehr bewegte.
Nun der Bericht über die Neocons, die unter anderem hoffen,
dass sich der Irak vorbildhaft zur Demokratie entwickelt,

die sich danach wie eine hormonelle Kaskade auf die ganze Region
ergießt und so den Amis einen weiteren Krieg erspart.
Schließlich der Artikel über die mehr als 1000 Juden 1939
im Praterstadion, vor dem Abtransport noch wissenschaftlich

vermessen, und Winds of Life. Destinies of a Young Viennese Jew,
das Buch des einzigen Überlebenden. Schwierig, mich zu konzentrieren –
– zwar Sonntag, aber wie hätte ich vergessen können,
dass hinter der Mauer, an der die Anrichte der Tante steht,

ein Mann lebt, der Heavy Metal hört oder sich Pornovideos
reinzieht. Gestern hörte er Black Sabath, so laut, als wäre
zwischen ihm und mir nur eine dünne Mauer. Plötzlich
merkte ich den Kopfschmerz. Ich stand auf, ging zur Anrichte,

wo oben alte Kassetten lagen, aber auch Ordner, Schachteln
mit Briefen und Zeitungsausschnitten, und darauf Fotos,
die in Klarsichthüllen steckten, auch sie staubig, vielleicht
voller Bakterien – ohne dem Impuls nachzugeben,

sie vorher zu betrachten, um mich der Erinnerungsbilder
an Wanderungen durch Städte, Bergbesteigungen, Fernflüge
zu vergewissern. Ich wischte sie feucht ab, noch immer im Schwanken,
ob ich den Nachbarn von meiner Anwesenheit informieren sollte

oder das Schreibzimmer so schnell wie möglich verlassen.
Inzwischen hatte es drüben mehrmals geläutet, ohne dass sich
viel änderte: neue Band, raues Gebrüll mit Hall. Zwischendurch
auch weniger Aufdringliches, das sich aber nicht durchsetzte.

Plötzlich gabs eine Pause, und ich hörte zwei männliche
Stimmen, ohne zu verstehen, was sie sprachen. Sie standen
etwa einen oder eineinhalb Meter von der Mauer entfernt,
und schon das verzerrte ihren Dialog zur Unverständlichkeit.

Ich sah auf den Wecker auf dem Kasten der Großmutter:
die Zeiger waren ein paar Minuten vor 13 Uhr stehengebliebelieben,
an irgendeinem Tag, nicht in meiner vergesslichen Gegenwart.
Ich war noch immer bloßfüßig, der Staub auf dem Boden

gab mir den Impuls, daran zu denken, hier aufzuwischen,
auch die verschmierte Waschmuschel im winzigen
Vorzimmer zu reinigen, die Klobrille. Keine Ahnung,
wann ich dort das letzte Mal gesessen war. Ich rettete mich

mit dem Gedanken, dass ich ja jemanden einladen könnte,
um mich so zum Wischen, Staubsaugen und Putzen zu motivieren.
Einen Moment lang dachte ich an die Putzfrau: wie sehr ich mich
schämen würde, wenn sie sich hier vor meinen Augen

in dieser Enge bücken müsste. Wohin ich dann gehen sollte.
Wie ich ihr diese Verwahrlosung überhaupt erklären könnte.
Es war klar, nie würde ich ihr vom Schreibzimmer erzählen,
in keinem Zusammenhang. Währenddessen war die Musik völlig

verstummt, und die Stimmen waren ganz leise geworden. Die beiden
Männer – ich wusste nicht, in welchen ich mich versetzen sollte,
würde ich die Situation umkehren wollen –, hatten sich offenbar
ins Wohnzimmer oder in die Küche zum Essen zurückgezogen.

Ich wollte sie animieren, die Wohnung zu verlassen,
und zwar genau in dem Moment, wenn ich die Tür öffnete
und auf den Aufzugknopf drückte. Gewöhnlich
stand der Aufzug, wenn ich hinaustrat, nicht im letzten Stock,

sondern darunter, oft im Erdgeschoß oder im Keller. Also gab es
noch einen Spielraum, eine Chance für den Zufall,
die von mir vorgestellten Gesichtsfragmente zu korrigieren
und zu realen Gesichtern zusammenzufügen, fürs Protokoll.

Der Lift kam nicht. Ich schaute nach links, eine Schachtel
mit Abfall vor der Wohnungstür. Die ging nicht auf, ich läutete nicht,
stellte mir nur ein Auge vor, das mir knapp über dem Kopf folgte,
bis ich beim Eingang angekommen war, wie üblich im Laufschritt

(Sonntag, 18.05.2003, 15.30 Uhr)

(Erschienen in: Schreibzimmer, Edition Korrespondenzen, 2012)

Donnerstag, 3. Juli 2014

F-27 WIEDERBELEBUNG

Irgendwo zwischen den Seiten
hockt mein Erstgeborener, entwischt mir
immer wieder hinter die Buchstaben,
ich hör nur sein Lispeln durch die Zahnlücken,
seh immer wieder voller Angst im weißen
Gesicht den winzigen Bluttropfen,
der am Abend den halben Körper bedeckt:
die zarteste Berührung bleibt haften
als schwarzer Abdruck. Das ist nicht wahr:
ich könnt mir die Augen ausreißen vor Schmerz.
Trotzdem tausch ich Speichel und Blut
mit ihm, und meine behutsame Hoffnung
öffnet ihm wieder den Mund: er atmet,
lächelt, winkt mit zerstochenen Händchen,
und die Tage springen, im Handumdrehen
wächst er heran zu meiner Gestalt,
in der Faust seinen Schwanz, aus dem er
sein samenhelles Blut quetscht.

(19.3.1981)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

Samstag, 28. Juni 2014

0157 - DER GENERAL

Kriegslüsternen Auges
der General studiert
Europas Landkarte:
bis aus dem Dunkel der Erde
ein Aufschrei ertönt
und aufsteigt
das Flugzeug des Jüngsten Tags,
mit allen Präsidenten der Welt,
begeistert fummelnd
an den Todesknöpfen:
aus der Gnade des Fliegens
explodiert die Macht,
und Menschen mit blauen Zähnen
verdorren blitzschnell,
auch alle Nuklearmannschaften
in Brüssel, Moskau, Berlin
trotz Abschreckungskapazität,
Neutronenkernwaffe..
Doch gefiederter Triumpf
bleibt dem General erspart:
bis in die Haarspitzen
angesoffen mit Whiskey,
dreht er sich nur im Kreis:
Natur als Friede,
Natur als Vernichtung,
nichts ist mehr glaubwürdig,
nicht einmal der eigene Tod.

(22.11.1981)

Sonntag, 22. Juni 2014

0156 - HEILIGES MOZAMBIN

Heiliges Mozambin,
komm herab,
senk meinen Puls,
töt mein Gehirn ab,
laß mich meinen Folterschweiß vergessen,
erhör mich,
schenk mir einen alptraumlosen Schlaf.

Ich kann meinen Wachatem nicht mehr hören,
meine Lüsternheit verstimmt mich,
meine Ohnmacht kränkt mich,
meine Unwissenheit läßt mich verzweifeln.
Während der Magen grunzt, bauen sich Szenen auf,
die ich tatsächlich erlebt haben könnte,
zeigt sich meine Ethik
in ihrer verquälten Verdorbenheit:
Es gibt kein Entkommen
in den Spalt zwischen den Wirklichkeiten.
Während sich der Wadenmuskel endlich entspannt,
brennt meine Lust am Chaos weiter,
mein Glaube an die Selbstregulierung jeglichen Bemühens.
Dein Monatsblut lähmt mich,
dein Schweigen erstickt mich,
meine ungenauen Ungerechtigkeiten
stilisieren sich zu einer paradoxen Schuld.
Trotzdem lasse ich alle anderen Frauen
hinter meinen Schultern herankommen:
Sie sollen mich fotografieren, massieren,
in weiche Stoffe einhüllen, unentwegt küssen.

Heiliges Mozambin,
komm herab,
schenk mir einen Traum
von der einzig möglichen Gemeinsamkeit:
vom niederfahrenden Geist, der allen zugleich
Vertrauen einflößt, sie kurzschließt
zu einem einzigartigen gemeinsamen Orgasmus
unterm herabstürzenden Mond.

(Mi.30.12.1981, Mitternacht)

Freitag, 13. Juni 2014

O-47s ENCONTRAR ALGO

Anonimidad depende del medio que se ofrece:
en algún lugar lejano o cercano, imágenes, noticias
colectadas en discos duros esperan ser accedidas.

Yo, que hago lo que millones de personas hacen,
en busca de algo muy otro, lleno de esperanza:
otro camino, otra vista. Requerido con toda naturalidad

a perseverar, a descifrar con la velocidad del relámpago
signos, a explorar textos medulares. Encontrar algo
en la maleza de cosas que cansan, distorsionan la atención.

Esperanza como un temblor al abrir los ojos:
que este día permita experimentar este algo de existencia acumulada,
donde también resplandezca sin rodeos lo más obvio

© Übersetzung: Claudia Sierich, 2014

Samstag 14. Juni 2014, 15:00 Uhr
Theseustempel Volksgarten 1010 Wien,

Tamara Kamenszain (Argentinien)
Miguel Casado (Spanien)
E. A. Richter (Österreich)
Gustavo Adolfo Garcés (Kolumbien)
Marco Antonio Campos (Mexiko)
Antonio Trujillo (Venezuela)

ÜbersetzerInnen: Birgit Weilguny, Claudia Sierich, Petra Strien-Bourmer, Cristina Rascón, Enrique Moya

Präsentation: Peter Waugh / Enrique Moya, Eva Srna

Bei dieser letzten Lesung gibt es ein Open-Mic,



http://www.foroliterario.org/2014/pdfs/programm-de.pdf

https://www.facebook.com/events/781904515175572/

Donnerstag, 12. Juni 2014

O-47 ETWAS FINDEN

Anonymität ergibt sich aus dem Medium, das sich anbietet:
irgendwo in der Ferne oder Nähe Bilder, Nachrichten,
gesammelt auf Festplatten, erwarten Zugriff.

Ich, der das tut, was Millionen Menschen tun,
auf der Suche nach etwas ganz anderem, hoffnungsvoll:
anderen Weg, anderen Anblick. Ganz selbstverständlich

aufgefordert zu Ausdauer, blitzschneller Enträtselung
von Zeichen, Erschließen von Kerntexten. Etwas finden
im Dickicht von Dingen, die ermüden, Aufmerksamkeit verzerren.

Hoffnung wie ein Beben beim Öffnen der Augen:
daß dieser Tag das gesammelte Etwas an Existenz erfahren läßt,
in dem auch, unverblümt, das Nächstliegende erscheint

(2005)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Freitag, 13.Juni 2014
Literaturhaus Wien, Zieglergasse 26a, 1070 Wien, 19 Uhr

Tamara Kamenszain (Argentinien)
Peter Waugh (Österreich/England)
Antonio Trujillo (Venezuela)

Lesung der Übersetzungen: Birgit Weilguny, Rafael Donadío

ÜbersetzerInnen: Petra Strien-Bourmer (Lesung: Birgit Weilguny), Cristina Rascón / Enrique Moya, Eva Srna

Mittwoch, 11. Juni 2014

E-17s MATERIAL

1.
el presente ciego acuclillado
sobre el pasado ciego me
busca con su mirada y a todos
los demás que siempre están
acuclillados en algún lugar o acostados o
que ya se disolvieron como estructura
humana, no desmaterializados, sino
disponibles como material

2.
ahora respiro, sobre mi cama
veneciana al lado de otra que está vacía,
miro puertas abiertas
a la luz artificial que viene de arriba y del lado
derecho. Y estoy seguro: si
avanzo, se abre
un espacio, otro segundo y tercero, delante
una plaza con voces y pasos
y una campanada clara
solo una

© Übersetzung: Claudia Sierich, 2014

Aus der Anthologie zum VII. Festival Lateinamerikanischer Poesie in Wien,
das vm 11. bis zum 14. Juni 2014 stattfindet.

Donnerstag, 12. Juni 2014
Hauptbücherei am Gürtel
Urban Loritz -Platz 2a, 1070 Wien
19:00 Uhr

Zweisprachige Lesung:
Antonio Trujillo (Venezuela)
Sabine Gruber (Österreich)
Miguel Casado (Spanien)

Übersetzerinnen:
Eva Srna, Claudia Sierich, Birgit Weilguny

http://www.foroliterario.org/2014/pdfs/programm-de.pdf

https://www.facebook.com/events/781904515175572/

Siehe: Material.

Dienstag, 10. Juni 2014

E-17 MATERIAL

1

die blinde Gegenwart hockt
auf der blinden Vergangenheit, hält
Ausschau nach mir und all
den anderen, die irgendwo
immer hocken oder liegen oder
sich schon aufgelöst haben als menschliche
Struktur, nicht entmaterialisiert, sondern
verfügbar als Material

2

ich atme jetzt, auf meinem venezianischen
Bett neben einem zweiten, das leer ist,
blicke auf geöffnete Türen
bei künstlichem Licht von oben und
rechts. Und ich weiß: wenn
ich nach vorn geh, öffnet sich
ein Raum, ein zweiter, dritter, davor
ein Platz mit Stimmen und Schritten,
und ein heller Glockenschlag,
nur ein einziges Mal

(2005, Venedig)

(Erschienen in: Schreibzimmer)

Montag, 9. Juni 2014

O-31s A LA ALTURA DE LOS OJOS

lo que está siendo escrito ahora
nunca se había puesto allí.
Este libro yo antes
jamás lo habría hojeado.

Se halla entre teclado
y monitor
sobre toda la basura
que se ha acumulado

en las varias últimas semanas:
facturas, comprimidos, fotos,
vasos, lápices, piedritas, polvo –
todo en extraña concordia.

Hasta la mitad más o menos
lo he leído
en el otro cuarto.
Y allá en el rincón junto a la bolsa de basura

una maleta varias veces amarrada,
dos zapatos desiguales,
una billetera pringosa
folletos, periódicos, calcetines, paños –

todo esto en el piso
a la altura de los ojos.
Lo que está por suceder
es imprevisible

(Montag, 15.01.2001, 18.10 Uhr)

© Übersetzung: Claudia Sierich, 2014

Aus der Anthologie zum VII. Festival Lateinamerikanischer Poesie in Wien,
das vom 11. bis zum 14. Juni 2014 stattfindet.

Mittwoch, 11. Juni 2014
Literaturhaus Wien
Eröffnung / zweisprachige Lesung
Zieglergasse 26a, 1070 Wien
19:00 Uhr

Begrüßung: Mag. Robert Huez,
Leiter des Literaturhauses Wien

Begrüßung: Enrique Moya,
Leiter des Lateinamerikanisch-Österreichischen Literaturforums

Zweisprachige Lesung:
Marco Antonio Campos (Mexiko)
Gerhard Rühm (Österreich)
Gustavo Adolfo Garcés (Kolumbien)

Übersetzerinnen:
Eva Srna Claudia Sierich Birgit Weilguny

Präsentation: Enrique Moya und Eva Srna


http://www.foroliterario.org/2014/pdfs/programm-de.pdf

https://www.facebook.com/events/781904515175572/

Siehe: In Augenhöhe.

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Freitag, 6. Juni 2014

0155 - DIE NEUEN BARBAREN

Sechs Jahre nach dem Putsch
ist die Gewalt in Gesetze gegossen,
ist das Unrecht institutionalisiert.
Soziale Markwirtschaft heißt:
uneingeschränkte Freiheit der Unternehmer,
bedingungslose Öffnung für ausländische Investoren,
Aufhebung aller Schutzzölle,
Reprivatisierung aller öffentlichen Dienstleistungen,
freies Spiel der Preise bei fixem Lohn:
was entwickelt war, wird wieder unterentwickelt
für Monokulturen, für den Weltmarkt,
für die Ausplünderung aller Rohstoffe.

Sechs Jahre nach dem Putsch
häufen sich die Sprengstoffanschläge:
aber neben den zerfetzten Leibern der Miristen
liegen griffbereit Dokumente
mit dem Hinweis auf künftige Attentate,
Legitimation der Junta
für das neue Antiterrorismus-Gesetz:
jede Handlung gegen die soziale Ordnung,
gegen die guten Sitten, gegen Personen
oder gegen das Eigentum
beweist die Illegalität einer Vereinigung.

Sechs Jahre nach dem Putsch
wird auch Schluß gemacht
mit den Gemeindegründen der Indios:
parzelliert und privatisiert
treibt es die Mapuchen, die sich verschulden müssen,
in die Hände der Großgrundbesitzer
deutscher Herkunft.

Sechs Jahre nach dem Putsch
steht auf ehernen Sockeln die Militärmacht,
unterm Beifall der Welt.

(11.9.1979)

Montag, 2. Juni 2014

0154 - OFENSPIELE

Als weißgrauer Rauch
aus dem Schornstein drängt
gegen den grauschwarzen Himmel,
kommst du und sagst: Rübezahl,

meinst meinen Riesenschatten
auf der gekalkten Wand,
deinen kleinen daneben
belächelnd.

In meinem flachen Kopf
ist ein langer, atemloser Moment,
während sich das Bild
im Sucher von selbst auslöscht,

während sich das gelbe Licht
aus der Küche
auf den unsichtbaren
Film schmuggelt.

Ihr drinnen vorm Ofen
bückt euch übereinander,
Vielfüßler, zuckende,
und laßt voneinander nicht ab,

bis alles geklärt ist:
warum wir nicht sprechen dürfen,
wer welche Sätze ausschneidet
aneinanderreiht nach welchen Gesetzen,

wie dann die Zufallsgeschichten
auf den einzelnen Blättern zu deuten sind,
weitergehn anstelle
weiterer tödlicher Nachrichten.

(21.9.1979)

Freitag, 30. Mai 2014

0153 - FLURBEREINIGUNG

Runter von der Autobahn
raus aus dem Auto hin
zum Kraterrand rein
in die Kiesgrube, dort
hört die Geldwirtschaft auf:
bezahlt wird mit Bons
im Zentrum für Herz und Nieren,
für feste und flüssige Alternativen,
mit Schlamm unter den Füßen,
Schlamm an den Leibern,
bis die Hunde kommen,
sich totlecken umsonst.
Wieder raus aus der Grube,
ausruhn im Chaos der Gruppen,
flanieren, warten
auf die Bühnenereignisse.
Doch die Ansager sagen,
daß keine Ansagen mehr
angesagt werden können,
Bauern sind im Anmarsch
zu ihren Feldern, sitzend
auf ihren Mähdreschern
verweigern sie jede Diskussion,
decken Lärm und Kot
zu mit Stroh, zündens an
zur Flurbereinigung,
seelenruhig voll Wut.

(24.8.1979)

Dienstag, 27. Mai 2014

0152 - ITALIENISCHE WOCHENSCHAU

1

Der ungeheuer neue Historische Kompromiß
erweckt nur Gähnen am Fließband
bei den Heimgekehrten von einem schwierigen Urlaub,
gestreßt, ausgenommen, halb gestorben vor Angst
vorm Meer und Tiberwasser.
Doch die Botschaft des HERRN
ist eingängig: den Gürtel noch enger
schnallen, arbeiten arbeiten am Aufbau
des verbesserten Kapitalismus,
den Christdemokraten, dem Leben die Hand
reichen und ihnen den Karren
wie immer aus dem Dreck ziehn.

2

Währenddessen der Papst
er klettert in einer weißen Maßwindjacke,
mit baumelndem Kreuz,
die Marmoladawand hoch,
unberührt vom wöchentlichen Verbot
des BÖSEN.

(5.9.1979)

Samstag, 24. Mai 2014

DZL-04 - ZU MEINER ZEIT

zu meiner Zeit war gar keine Zeit.
Die Zeit hatte sich noch nicht losgelöst,
lag ungelöst in einem dunklen Raum,
ungelöst in den Gläsern, die ich noch

leer trinken würde, schwebte in Rauchringen,
die ich den andern – mit meinem langen Atem –
gestohlen hatte. Ich stand vor der Zeit,
ohne sie als eigene zu erkennen. Fremde Zeit

umgab mich, chancenlos festgenagelt,
nicht betrunken, nicht berauscht,
nicht niedernikotinisiert, nicht wissensgeil,
in keiner Therapie, in keiner auch nur

ansatzweise erträglichen Lebensform.
Zu meiner Zeit war alles ein lausiger Entschluß,
inmitten eines Blütenmeers am Blumentag,
der diese Zeit nie verlassen würde

außer mit einer überraschenden Explosion.
Zu meiner Zeit war keine Zeit zum Studium
von Geschlechtsteilen, niemand bot dergleichen feil.
Sowohl Ziehharmonikabeherrschung als auch

fleißigster Besuch von Tanzschulen führte
vom Umweg des Frauenkörperporträtisten
nicht weiter als zum Schaum auf den Lippen
anderer, Mädchenlippenschaum, der sich nicht

herunterküssen ließ an solch schäumenden Tagen.
Jede Bemühung zu meiner Zeit verschlug mich
in die Annäherung an das Jetzt: zu den nackten
Tatsachen einer Unzahl zeiterschöpfter Uhren

(2013)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

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DZL-10 BRAUTMASCHINE
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DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
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DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
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DZL-15 JUNGE FRAUEN...
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