iris_ano (Gast) - 2011-11-17 14:15

Erst...

beneide ich die so 'Beobachtete', würde auch gern so viel Interesse verursachen, genießen (?), dann kehrt sich das in Unsicherheit, die sich zur Abwehr steigert gegen den Verweigerer, den Wickelpolstermann - wie soll man sich das eigentlich vorstellen? - den Stammbaum, der erschlägt...
Offensichtlich geht Lyrik bei mir nur, wenn Identifikation möglich ist. Wenn ich mir's recht überlege, eigentlich gilt das für Epik auch. Und wie ist das jetzt mit der Dramatik? Das muss ich erst herausfinden.
Das klingt ja nach einem Outing - sollte ich eigentlich wieder löschen. Na, ich lass es stehen, wer weiß, ob's überhaupt jemand liest ;)

e.a.richter - 2011-11-17 15:28

Liebe Iris, ich glaube, du hast den Vorgang, auf den sich dieses Gedicht bezieht, doch verstanden. Wäre es ein epischer Text gewesen, hättest du vielleicht mehr Ansatzpunkte zur Identifikation gefunden.
Auch wenn anscheinend Eigenheiten einer konkreten Person genannt werden, so kann sich dahinter doch eine sehr synthetische Gestalt verbergen. Stell dir vor, du beginnst mit einer Zeile, zu der du gerade einen Impuls – woher auch immer - bekommen hast, und dann läßt du dich einfach treiben. Da du weißt, daß du eine optische Gliederung vorziehst, entscheidest du dich für die Strophenform. Das Versartige entsteht durch deine innere Sprechweise, die ja jedem Menschen zueigen ist, allerdings unbemerkt, wenn du nicht beginnst, dich dessen bewußt werden wollen, am besten indem du das Geschriebene laut liest, was aber in einer solchen Situation einen Abbruch bedeuten würde. Jede Äußerung gestaltet sich sozusagen von selbst, wenn man ihr freien Lauf läßt. (Zum Beispiel hast du 3x ? verwendet, 1x ... und einmal ;) – alles in voller Absicht?)
Stell dir vor, du bist durch diese ersten Wörter auf eine bestimmt Spur gekommen, zum Beispiel – wie hier – auf die Du-Spur, die ja etwas Brief- und Mailhaftes an sich hat, hier allerdings den Bekenntnischarakter nicht verleugnen kann. Das Du zieht weiter, du wendest dich da- und dorthin, und irgendwann merkst du, daß manches vielleicht übertrieben erscheint, sich vom konkretn Vorbild abgelöst, vielleicht einem anderen zugewandt hat, ohne daß es seine Stimmigkeit verloren hätte.
Schweifende Aufmerksamkeit, Verkürzung, auch eine gewisse Übertreibung – du mußt das ja nicht gleich, während du der Spur folgst, bemerken, doch irgendwann nachher, auch den Hang zur Aufzählung (die sich leicht übertreiben läßt) und zum Fragmentarischen, das auch der Wechsel von Nah- und Fernblick unterstützt.
Stell dir vor, du hättest zum Beispiel das Wort „Wickelpolstermann“ vorher noch nie gelesen, auch noch nicht in deinem Kopf gehabt. Plötzlich steht es vor dir – Wickelpolstermann –, und du denkst: Ah, wie praktisch dieses Deutsch, so leicht lassen sich neue Begriffe bilden, drei Wörter, die sich so spielerisch zusammengefügt haben, und das drückt genau das aus, was ich – aus dem unkontrollierten Subtext heraus – gemeint haben könnte: ein Wort für einen Mann, der als Neugeborenes in einen Wickelpolster gezwängt wurde, ohne sich dagegen wehren zu können. Und dieser Mann würde – das könnte dieses Wort meinen – noch immer in gewissen Situationen (oder gar als Metapher für seine Lebensform) sich von einem solchen Wickelpolster umgeben fühlen: aus Luft, aus Leibern, aus irgendeinem mehr oder minder festen Material. Der Wickelpolster läßt sich natürlich wegdenken; das Gefühl der Enge, die Angst vor der Enge, der Impuls zum Ausbruch nicht. Kannst du das nachvollziehen?
Vielleicht stellst du dir folgende Frage: Warum schreibt das lyrische Ich strophig und läßt nicht die Verszeilen hintereinander vor sich hin ischwingen, bis sie von selbst zu einem Ende kommen? Möglicherweise deine Antwort: Das lyrische Ich, das vielleicht etwas von diesem Wickelpolstermann in sich hat, sucht einen sichtbaren Halt auch im Schreiben, und der Versbruch genügt nicht. Es sollten kompakte Wortpakete entstehen, damit eine Leerzeile, ein Durchschuß, der die Übersicht erleichtert, die Möglichkeit eines Vor- und Rückblicks und auch – bei entsprechender Distanzierung – ein Gesamtbild.
Du siehst, man kann ein Gedicht auch als etwas Bildhaftes betrachten. Wenn allerdings wieder den Nahblick folgt (wie du ihn ja eingesetzt hast), könntest du verschiedenes irritierend finden, etwa, den „Stammbaum, der erschlägt..“! Suchst du die Leerzeile nach der 17. Strophe auf (insgesamt sind es 20, zu jetzt 4 Zeilen, zusammen also 80) findest du „Riesenschachtel“. Beantwortet das deine Frage?
PS: Mir kommt das Gedicht jetzt wie ein melodramatischer Bilanzierungsversuch vor, mit Happy end. Zu wessen Gunsten?

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