T-05 TATIANA

Bei Tatiana mag vielleicht dazu gekommen sein, daß sie den Aufenthalt in einem EU-Land nur als Sprungbrett für einen Studienplatz an einer Universität in den USA benützen wollte. Aber sie scheint bereits eine Fernbeziehung mit einem Österreicher oder Deutschen begonnen zu haben, nachdem sie ihn an der Universität in Moskau kennengelernt hatte. Vielleicht war das aber schiefgegangen, aufgrund der ständigen Schwierigkeiten, die ihnen die Behörden machten.

Möglicherweise haben sie einander schon vorher bereits abwechselnd besucht, alle zwei Monate jeweils zwei, drei Wochen. Wenn Tatiana kommen wollte, brauchte sie jedes Mal ein Visum, und ihr Freund mußte nachweisen, daß er für sie sorgen kann. Da er als Student nicht genügend verdiente, mußte seine Mutter einspringen. Sie hatte ihr Einkommen in den letzten drei Monaten anzugeben und ihren Mietvertrag vorzulegen. Hätte das sein Vater getan, hätte sie vielleicht als unverheiratete Frau kein Visum gekriegt.

Würde ich Tatiana zu dieser Vermutung gefragt haben, hätte sie vielleicht ihre Situation so beschrieben:

„Beim Konsulat wollten sie immer wissen, ob ich einen Mann hier habe. Sie haben gefragt, ob die Frau, die ich besuche, einen Sohn hat und ob der verheiratet ist. Sie unterstellen jeder Russin, die für längere Zeit ausreisen will, daß sie davon träumt, einen Deutschen zu heiraten. Hätte ich gesagt, daß ich mich in einen Studenten verliebt habe, hätten sie mir das nicht geglaubt. Denn an Liebe denkt man in Rußland in so einem Zusammenhang nicht. Man glaubt gleich, die hat sich einen dicken reichen Deutschen übers Internet geangelt und nur eines im Sinn: daß er sie schnell heiratet.“

Tatiana brauchte eine Aufenthaltserlaubnis, die sie erst bekam, als sie angab, sie wolle ein Studium zwecks Spracherwerb beginnen. Dafür hatte sie aber zu wenig Geld. Von ihrem Freund wollte sie sich nicht abhängig machen. Aber als Studentin durfte sie offiziell nicht arbeiten. Daher entstand der Druck zu einer Heirat. Denn selbst wenn eine Firma gutwillig gewesen wäre und ihr einen Job angeboten hätte, wäre es schwierig gewesen, für sie eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.

Denkbar, daß das die Streitpunkte waren: kein eigenes Geld, keine Arbeitserlaubnis, einen teuren Deutschkurs besuchen und als einziger Ausweg die Heirat. Diesem Zwang wollten beide widerstehen.

Vorstellbar auch, der Tatianas einheimischer Freund einmal – heimlich? – versucht hat, beim Standesamt eine Trauung anzumelden. Doch vor dem Zimmer für Ehen mit Auslandsbeteiligung mußte er hören, wie der Beamte mit den beiden Türken, die er hineingehen sah, schimpfte. Er dachte, der könnte ihm vorhalten, er sei einer, der diese junge attraktive Russin unter finanzieller Beteiligung aller Verwandten gekauft hat und jetzt importieren will.

Möglich, daß Tatiana nach einiger Zeit einer Eheschließung zugestimmt und versucht hat, alle nötigen Dokumente zusammenzukriegen. Wahrscheinlich bei beiden dasselbe Erstaunen wie bei mir, als ich las, daß die Originale der Ausweise, Bescheinigungen und Urkunden apostilliert werden mußten. Allerdings werden aufgrund der Vereinbarung zwischen den beiden Herkunftsländern nur die Apostillen bestimmter Behörden anerkannt. Im Falle Tatianas war es das Justizministerium.

(3. Jänner 2007)

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