T-06 TATIANA

Schwierig wurde es beim Ehefähigkeitszeugnis, das russische Standesämter nicht ausstellen. In Rußland gibt es aber Reisebüros, mit deren Hilfe man bürokratische Hürden überwinden kann. So hätte Tatiana, falls sie tatsächlich einer Ehe zugeneigt war, einen Stempel in den Reisepaß zur Bestätigung dessen gekriegt, daß im Personalausweis kein Ehemann eingetragen ist. Dann hätte das hiesige russische Konsulat dieses bescheinigen müssen und erst diese Bescheinung hätte das Standesamt anerkannt.

Daß das nicht das Ende gewesen sein kann, ist klar. Denn Tatiana hätte ja zur Hochzeit einreisen müssen, wofür sie kein Touristenvisum verwenden durfte, sonst wäre das als Betrug gewertet worden. Doch das Konsulat in Moskau hätte dieselben Dokumente verlangt, die beim Standesamt lagen und erst wieder nach der Hochzeit zurückgegeben worden wären.

Wäre nicht jetzt schon der Zustand der Zermürbung auf seinem Höhepunkt angelangt gewesen, dann durch die Tatsache, daß die hiesige Ausländerbehörde ja prüfen mußte, ob es gegen die Einreise Tatianas zwecks Heirat Einwände gegeben hätte.

Ich vermute, daß die Geduld des jungen Mannes noch härter auf die Probe gestellt worden war. Denn an dem Tag, als er, wie geplant, die Ehe anmelden wollte, bekam er vom Standesbeamten keinen Termin. Warum das? Die Unterlagen sollten noch vom Oberlandesgericht begutachtet werden. Keine Angabe von Gründen. Auch keine Erklärung dafür, warum der Heiratswillige sich selbst darum kümmern mußte, daß die Papiere von der einen Behörde zur anderen gelangten.

Vielleicht geriet er auf einmal in Panik. Vielleicht kamen Tatiana Bedenken, weil sie ja noch Visa für ihre Familienmitglieder und ihre Freundinnen brauchte. Kann sein, daß sich das alles nur im Kopf des hiesigen Freundes abgespielt und sie sich schon viel früher zur illegalen und höchst unsicheren Tour entschieden hat, nämlich mit einem Studentenvisum einzureisen, um dem beidseitigen Druck – dem von ihren Eltern und ihrem Exehemann her und dem vom zukünftigen Gatten und dessen Familie – endlich zu entkommen.

Ich konnte es nicht unterlassen, die beiden Namen im Internet zu suchen. Bei Daniel Ramirer bekam ich nur die Bestätigung seiner Tätigkeit: Fachassistent, Fachbereich: Deutsch als Fremdsprache, Sprechstunden: Dienstag von 10-11 Uhr. 3. Stock / Raum 41.

Ich tat vorerst nichts. Nach ein paar Tagen rief ich dann doch im Studentenheim an und fragte nach einer Tatiana Kornienko, in der Hoffnung, sie würde noch dort wohnen. Ich wollte keinen direkten Kontakt mit ihr aufnehmen, sondern sie nur auf ihren Wegen durch die Stadt aus einer gewissen Entfernung eine Weile begleiten. So würde ich eine - wie auch immer geartete - Auseinandersetzung mit Ramirer noch einige Zeit vermeiden können.

(4. Jänner 2007)

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