Friede den Männern

Freitag, 15. April 2011

F-07 GESCHLECHTERFEINDSCHAFT

Die Feindschaft bricht auf
so eindeutig wie alles
zwischen uns: zwischen
den blauen Heften, den unleserlichen blauen
Kinderschriften herausleckendes
Feuer, kalt machend
wie der Himmelsfrost.
Zwischen den Zeilen
die ungesagten unaussprechlichen Sätze,
die sich wiederholen,
die ungeschlachten Augenblicke,
die sich wiederholen.
Die Wiederholung
wiederholt sich.
Du gehst weg,
der Heizlüfter singt,
der Wasserhahn tropft,
ich friere in den Zehen.

(1981)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

Sonntag, 27. März 2011

F-06 REIMLOS

Nichts reimt sich,
gottseidank. Oder
es reimt sich so leicht,
ein Kinderspiel,
Nonsens-Zeilen vorm Einschlafen.
Wort für Wort
fall ich auf die Wahrheit hinein.
Und die Wirklichkeit saust vorbei,
und mein Leben bleibt unverdaut.
Beharrlich massier ich
meinen sauren Magen.
Nur in den blassen Träumen
gibt es ein Kind,
das meine Utopie rekonstruiert.
Ich beweg meine Arme und Beine
wie Satzglieder: jetzt
drücken sie mich aus.

(1980)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 12.)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982))

Donnerstag, 24. März 2011

F-05 - Active Poesie

Als der tote Buchebner endlich aufwacht,
vom Lärm im österreichischen Lachkabinett,
aufsteht aus seinem soliden Alpensarg,
raustritt aus seiner Zellulose-Zeit
mit fanatischen Augen, ohne Morphium,
die mörderische Qual des Jahrhunderts im Gesicht,
als er die gepolsterte Tür hier eintritt,
da hört jedes Papierrascheln auf,
die outrierenden Schauspieler fallen textlos um,
der Schatten am Kopf des Geigers stockt:
eine krähende Feuersirene,
Buchebner, mit der noch immer nicht entschärften
Sprengladung im Hirn, fegt seine Feier hinaus
bei den geschlossenen Fenstern,
mit einem Griff in die Bauchhöhle.
Raus fallen die Arbeiter von Schoeller Bleckmann,
die Wickler von Semperit, Friedens-
versehrte an Leib und Seele,
in ihre ungewollte Wiedergeburt.
Einer bläst sich auf, ballt die Faust,
und es regnet eine Unmenge Dinge,
Kühlschränke Reifen Messer Autos:
er signiert sie mit seinem Namen,
sie füllen den Saal,
die Redner gehn unter, schrein um Hilfe,
das Gelächter der Ausgeworfenen erstickt sie.
Lässig befördert der Dichter
den Rest ans Licht: Vorstandsmitglieder,
Direktoren, Experten.
Er lässt sie an ihren Haaren
baumeln. Das ist
active Poesie, schreit er.
Das ist meine Rache,
die lindert ein wenig den Schmerz.
Mit den Lohnstreifen erwürgt er sie alle: Das ist
die Botschaft der Hölle Fabrik,
das ist der Fortschritt.
Als Buchebner seine Kreaturen
in den Bauch wieder einschließt,
kippt er vornüber.
Mit ihm versinkt
seine totale Revolte.
Der tote Raum
hallt wieder,
das gefrorene Blut
taut auf, mühelos
finden die Schauspieler den Anschluss,
die Schatten rühren sich:
es ist, als wär
nichts gewesen.

(1980)

(Blick zum Nachbarn: Freaks 06.)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

Donnerstag, 17. März 2011

F-04 BODY BUILDING

Mein Körper ist
kein Körper der andern,
keine elfenbeinerne Kraft-
maschine des Glücks,
kein Fackelträger
universeller Illusionen.
Singulär wie ein Haufen
zerschnittener Reifen,
weiß er nichts
über seine Allgemeingültigkeit.
Er hat kein Double,
will sich nicht wieder-
erkennen, nirgends.
Er träumt nicht
von einer Geld-Börse,
auch nicht von einem Hand-Schuh-Fach,
er träumt überhaupt nicht,
am wenigstens von anderen Wagen.
Lächelnd verzweifelt er schnell
an dem, was überraschend
aufsteigt aus der Vierten
Dimension. Geschwollen zuckend
bewegt er sich durch die Gegenwart:
seine frühere Erfahrung
schirmt ihn nur notdürftig ab.
Muskel-Bildung ist Neben-
sache: leicht verkommt er
zu raschelnder Streichelhaut
über zweideutiger Geschlechtlichkeit.
Seine absichtliche Meisterschaft
liegt in der Verrohung der Augen,
im Zupappen der Ohren,
im Ausufern der Zunge,
im Anecken und Umwerfen,
im ständig wandernden
Stachel im Fleisch.
Unwiderruflich
ist mein Körper eine Fehl-
entwicklung, eine glanzlose
Einzelerscheinung,
eine Münze, die nichts wert ist,
ein Schlüssel, der nicht paßt,
ein Faß ohne Boden; zugleich
eine bescheidene Freude
zur Einschlaf- und Aufwachzeit.

(1980)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

Freitag, 11. März 2011

F-03 FALSCH ANGEFANGEN

Falsch angefangen, schon wieder,
mit Schlaflosigkeit, Fliegenkräuseln,
Abwaschwasser, das im Finstern
steigt. Schemenhafte
Vorstellungen: draußen
der Vollmond, das Kind
nebenan, hinter Gittern, erst
das Jahr 2001 als Jahr
des Gleichgewichts, wo alles Überflüssige
verdunstet, wo einjährig
die überschüssigen Nachkommen
die einzige Überlebensspeise der Hungernden sind.
Zynische, allmächtige Liebe.
Die Mäuse auf dem Dachboden schlafen,
der Kopf ist eine Box, in der ich spazierengeh
mit einem weißen Stock,
der Gute und Böse erschlägt,
bis die Zeit mich ausgespien hat
an einem völlig andern Ort,
bei den schönen Antipoden.

(1980)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

Dienstag, 8. März 2011

F-02 FRIEDE DEN MÄNNERN

Eigentlich wollten wir ins Kino gehn,
aber plötzlich wars zu spät, so entstand
eine Pause, ihr Frauen
zogt euch zurück zu einem Frauengespräch,
ich Mann blieb allein mit mir,
auf einem Ikea-Stuhl,
und schob etwas Nützliches ein.
Ihr kamt zurück, unter euch
meine Freundin, der Tee
war herb und heiß, das Cassettengerät
stand auf dem Tisch, die Frage: Was
ist die Liebe der Männer?
verbrannte mir die Zunge,
ich trank den Tee.
Trotzdem beschrieb ich euch meine Scham,
meine phantastische Pubertät:
die Blickwechsel im Spiegel,
die Friedhof- und Kirchturm-Küsse,
Rosen und Schädel,
Schwänze und Engel,
meine ausschweifenden Erwartungen,
meine überraschenden Gefühlsumschwünge,
mein offenkundiges Unglück.
Ich beschrieb euch meine Mutter,
meinen Vater, meine ersten Geliebten,
doch ihr maßt mich mit Frauenaugen,
da kam ich ins Stottern,
und ein anderer trat hinzu, lächelte
mitfühlend, zuckte die Schultern,
trank meinen Tee und verschwand.
Wir gingen dann doch ins Kino, viel später,
ich Mann und ihr Frauen,
unter euch meine Freundin,
und ich sah euch neben mir,
im Dunkeln umschlungene Paare,
unter euch meine Freundin,
und ich saß neben euch,
ohne Körperverbindung, mutterlos-
seelenvoll, stets an der Kippe
zum Mann, mitten im Männerfilm
über Frauen: jeder Seitenblick
war Krieg, jeder Atemzug
vertrieb das Paradies.
Ich flüchtete aufs Klo,
stellte mir Friedliches vor:
ohne Ansehn des Geschlechts
massieren wir einander
mit genauer Zärtlichkeit,
ohne Ansehn des Geschlechts
erzählen wir einander voneinander
mit befreiender Freundlichkeit,
ohne Ansehn des Geschlechts
bereiten wir einander
eine gute Mahlzeit, essend
machen wir Pläne und gehn dann,
ohne Ansehn des Geschlechts,
an die Arbeit.
Aber als ich euch Frauen
auf der Straße wiedersah,
eingehängt, eine breite Front, nach vorn
marschierend, da griff ich mir
meine Freundin, würgte und schlug sie,
bis ihr Frauen über mich herfielt,
und mein Blut kam über euch,
färbte Gesichter und Hände rot.

(1981)

(Eingestellt zum Weltfrauentag 2011)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

Dienstag, 1. März 2011

F-01 BECKETTS KIESEL

Ich hab keine Kiesel
in den Taschen wie Beckett, wenn ihn
die Lust zum Lutschen überfällt.
Doch hätt ich welche, hätt ich keine
Bedenken, sie wahllos zu lutschen:
mir ginge es nicht um Zahl, Bezeichnung,
Zirkulation; auch nicht um eine Methode
der größeren Gerechtigkeit:
Kiesel sind rund, glatt, bald körperwarm,
geben ein angenehmes Geräusch von sich,
wenn sie einander berühren; Kiesel
sind keine Individuen, weinen nicht,
machen keine Revolution,
sind zweckmäßig und austauschbar.
Es gibt elegante und handfeste
Lösungen: Beckett hat sie alle
ausprobiert. Er hat einen Text geschrieben
über angenommene Kiesel
in angenommenen Taschen
mit einer angenommenen Gerechtigkeit;
ich aber will etwas Reales,
das sich auch zum Lutschen eignet:
einen Strohhalm, einen Hemdzipfel,
einen Daumen, eine Warze;
oder eben einen wirklichen Kiesel,
als Begleiter, Ballast, Geschoß:
den kann ich auch lutschen
oder schlucken oder herschenken,
mir immer der Folgen bewußt,
oder einfach vergessen.

(15.7.1981)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

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