Fliege (Notizen)

Sonntag, 26. Mai 2013

FL-23 Fliege (Notizen)



Zu „Fliege. Roman eines Augenblicks“ (Edition Korrespondenzen, 2010). Mehr hier, hier und hier.

Vielleicht auch ein Blick hierher. Und hierher.

Donnerstag, 23. Mai 2013

FL-22 Fliege (Notizen)

Summen 3

Ich habe noch immer Straßenkleidung an, auch die Schuhe. Eigentlich wollte ich mich ja nur kurz hinhocken und noch schnell etwas zu „summen“ notieren. Und danach aufs Laufband, ließ aber beides sein. So einfach ist es mit dem Eigen-Willen: er setzt sich durch, oft nur durch eine Positionsveränderung beeinflußt, durch die davon umgelenkte Aufmerksamkeit.

Wenn ich wie jetzt neben jemanden liege und diese Person schläft, denke ich nicht ans Einschlafen. Es ist noch keine Qual, nicht eingeschlafen zu sein. Es freut mich, daß Ruhe eingetreten ist. Noch beruhigender ist es, wenn sich einzelne Partien des Körpers nicht in den Vordergrund drängen.

Dunkle laue leise Grundstimmung. Ich hänge meinen Gedanken nach. Kein Summen, doch Blubbern auf einer Wasseroberfläche. Ölig. Windstille. Metallischer Glanz. Blasen, die immer größer werden, ohne zu platzen. Ich denke, ich liege unter einer immer größer werdenden Blase, von mir kommt der Atem, es ist mein Atem, der die Blase füllt, ich beschäftige mich nur mit dem Ausatmen und weiß nicht, was passiert, wenn ich keinen Atem mehr habe.

Ich seufze wieder, und jetzt ist der Impuls drängend, mich zu erheben, nach draußen zu gehen, um auf den Nachthimmel zu blicken, zwischen den kahlen Bäumen hindurch. Vielleicht wird wieder die weiße Nachbarskatze neben dem weißen umgekippten Tisch kauern. Vielleicht kann ich sie mit meinen Summen locken. Sie wird sich mit einem Ruck erheben, zu mir herschlendern und sich an mich drücken. Gestern tat sie es.

(22. Dezember 2006, 20:45)

Dienstag, 21. Mai 2013

FL-21 Fliege (Notizen)

Summen 2

Heute ist ein anderer Tag, ich bin anders gestimmt. Ich könnte jetzt summen, ohne daß ich auch den Lüfter, das Klappern und das Sirren höre. Willentlich ist aber das nicht so einfach. Wie steuere ich meine innere Aufmerksamkeit?

Ich kann sie nicht steuern, sie richtet sich von selbst auf Synonyme von „summen", ich muß dem nachgehen. Als solche sind angegeben: surren, zirpen, brummeln, brummen, singen.

Bei Grimm heißt es, „summen" bezeichne „die vibrierende klangart eines tones, ohne ursprünglich an eine bestimmte stärke geknüpft zu sein.“ Daher konnte eine Glocke summen, aber auch der Donner, das Meer. Im Lauf der Zeit wurde die Bedeutung auf „leise, verhalten oder dumpf zitternd tönen“ eingeengt.

Im Englischen gibt es sechs Synonyme: 1. bombinate (brummen, summen), 2. bumble (summen, zockeln), 3. buzz (brummen, summen, surren), 4. croon (summen, leise oder schmachtend singen), 5. drone (brummen, dröhnen, faulenzen, leiern, summen, eintönig reden) und 6. hum (brummen, summen).

Fünf im Französischen: 1. bourdonner (brummen, murmeln, sausen, schwirren, summen, surren), 2. chantonner (summen, vor sich hinsingen), 3. fredonner (brummen, summen, trällern, vor sich hinsingen), 4. frémir (beben, erzittern, rauschen, schaudern, schauern, summen, zittern) und 5. vrombir (brummen, dröhnen, knattern, summen)

Und im Spanischen drei: 1.gruñir (anknurren, brummen, donnern, grunzen), 2. refunfuñar (brummeln, brummen, summen, mucken, muffeln, nörgeln) und 3. zumbar (brummen, dröhnen, sausen, summen, surren)

Im Moment summt mir der Kopf. Von den Ohren steigt Hitze auf. Ich denke daran, daß ich mir gestern etwa um die gleiche Zeit die Finger in die Ohren gesteckt habe. Daß ich mit einer Frau gesprochen habe, die sich zur „Heilung der Ohren“ Eiszapfen einführt hat; und sie leugnete, einen bleibenden Schaden davongetragen zu haben, hörte aber in Gesellschaft, also auf einem lebhaften Hintergrund, nur dann jedes Wort, wenn sie in die Richtung des Sprechenden blickte.

(22. Dezember 2006, 12:34)

Sonntag, 19. Mai 2013

FL-20 Fliege (Notizen)

Summen 1

In einer Rezension zur Brodsky-Anthologie wird „Fliege", ein „in ausdauernder Beobachtung dahinsummendes Strophenwerk“ genannt, „das über das Ableben eines Brummers philosophiert“. Summen, brummen. Oder: Summen brummen! Brummendes Summen, summendes Brummen.

Keine Verwirrung – „summen"/„Summen“ ist nur ein einfaches Homonym: das Verb „summen" und der Plural von „Summe". Nur im Plural ist es auch homophon. „Summen" ist onomatopoetisch und hat schon im Mittelhochdeutschen so gelautet. „Summe" hingegen leitet sich vom lat. summa ab, höchste Stelle, höchste Zahl (da von unten nach oben zusammengezählt wurde), Gesamtheit, Betrag, Menge, Inbegriff, und ist das substantivierte Femininum von lat. summus, der Höchste, Äußerste, Größte, Vollkommenste. So bringt die Lautlichkeit Begriffe zusammen, die in der Realität nichts miteinander zu tun haben. Doch im Vergleich zum Chinesischen sind homonyme Wörter im Deutschen relativ selten.

Die lautliche Mehrdeutigkeit kann einen jedoch auch im Zusammenhang mit Fehlschlüssen beschäftigen. Einmal nicht aufgepaßt, nicht genau hingehört – schon ist eine fallacia ambiguitatis passiert, ein Fehlschluß der Mehrdeutigkeit!

Hierzu: Summen summen! Mehr gibt’s nicht! Summende Summen? Wo denn, im Kopf? Ja, der Kopf summt, ist voller summender Bienen. Bienen sind mir in diesem Zusammenhang näher als Fliegen. Die summen auch, aber vielleicht summe ich. Vielleicht bin ich die Summe des eigenen Summens? Ist mein Summen für mich hörbar?

Ja, ganz einfach: wenn ich alle Eigengeräusche zu einem Summen zusammenfassen wollte oder sie sich als Summen bezeichnen ließen. Ist das, was ich höre, die Summe der Eigengeräusche? Lassen sich die Eigengeräusche nicht immer auseinanderdividieren?

Im Moment höre ich ein Außen- und ein Innengeräusch. Von draußen das des Lüfters; von innen kein Summen, sondern ein Sirren, ein mir wohlbekanntes Geräusch, das sich bei Bewegung des Kopfes kurz senkt, vermengt mit Knacksen und Knirschen im Nacken.

Außerdem bin ich voller Aufmerksamkeit gegenüber Geräuschen. Sozusagen mit den gespitzten Ohren angespannt lauschend. Noch etwas? Ja, das Tippgeräusch. Es ist das dritte, das sich jetzt einblendet, und je nach Buchstabentaste verschieden. Der Anschlag der Zwischenraumtaste klingt hart und geradezu endgültig.

Jetzt habe ich doch geseufzt und kurz – und ohne daran zu denken – die Luft ausgestoßen. Birgit hat angerufen und angekündigt, sie werde vorbeikommen, um sich Gilmore Girls anzusehen. War das der Grund?

Ich bleibe beim Thema: zwischen Außen und Innen in der Aufmerksamkeit hin- und herzupendeln, erscheint mir so, als würde ich den Kopf abwechselnd nach links und nach rechts drehen. Links steht der Computer, das rechte Ohr sirrt. Um das zu überprüfen, stecke ich beide Zeigefinger zugleich in die Ohren. Je stärker ich die Fingerspitzen hineindrücke, desto gleichmäßiger wird das Sirren auf beiden Seiten. Damit verbindet sich aber ein dunkles insistierendes Rotieren im Hintergrund, als gäbe das drinnen einen Propeller.

(20. Dezember 2006, 08:51)

Zu „Fliege. Roman eines Augenblicks“ (Edition Korrespondenzen, 2010). Mehr hier, hier und hier.

Donnerstag, 16. Mai 2013

FL-19 Fliege (Notizen)

Akkordeon, Pianino

Ich hatte keinen Musikunterricht ab der 5. Klasse, sondern nur Bildnerische Erziehung. Allerdings lernte ich beim angesehenen Hrn. Resch etwa ab dem 10. Lebensjahr Akkordeon. Damit spielte ich bei öffentlichen Veranstaltungen, etwa bei Weinlesefesten und beim Silvesterprogramm, Walzer, Polkas, Märsche und Zwischenmusiken.

So lernte ich die Mitglieder des Gesangvereins kennen, vor allem die weiblichen, da war ich 14. Dessen Leiter besaß eine Getränkeerzeugung und befaßte sich auch mit dem Weinhandel. Daher näherte ich mich über ihn recht schnell dem Weingenuß in seiner üblichen Form an. Den sogenannten Haustrunk, gepreßt aus den über Nacht in Wasser getränkten Trestern, kannte ich schon seit Beginn der Volksschulzeit. Er war das Getränk, das mittags und zur Jause bei der Feld- und Weingartenarbeit getrunken wurde.

In der Oberstufe verlagerten sich meine außerschulischen Aktivitäten immer mehr vom Dorf in die Kleinstadt, in dem sich das Gymnasium befand. Da es oft Nachmittagsunterricht gab und die Eltern leicht anzuschwindeln waren, kam ich fast jeden Tag erst am Abend nach Hause und erreichte damit, daß sich meine Tätigkeiten am Hof deutlich reduzierten. Ich mußte nur mehr beim Tierefüttern helfen und die Milch ins Kasino bringen.

Bis zur Matura nahm ich an den meisten dörflichen Festen und Theateraufführungen als Akkordeonspieler teil, nicht unbedingt aus Leidenschaft. Es war aber eine Möglichkeit, meine Scheu vor größeren Menschenansammlungen zu überwinden und mit den Dorfbewohnern in Kontakt zu bleiben.

Lage Zeit stand hier in meiner Unterkunft ein Pianino, das nur ein einziges Mal von einem Onkel gestimmt worden war. Manchmal blieb es längere Zeit unberührt. Dann wieder setzte ich mich aus einer Laune heraus hin und begann, vor mich hin zu phantasieren. Mehr war nicht möglich, da ich ja nie gelernt hatte, beidhändig zu spielen. Mit der zweiten Hand konnte ich nur einen Rhythmus vorgeben und ihn variieren. Mehr als Oktaven anzuschlagen, gelang mir nicht. Dieses Spiel war aber doch ein unmittelbarer Ausdruck von Stimmungen und musikalischen Ideen, im engen Rahmen meiner technischen Möglichkeiten.

Manchmal hörte ich reine Töne. Es war, als würde eine Membran plötzlich durchlässig werden und sich mein Hörvermögen erweitern.

Ich wollte mich von diesem Pianino nicht so einfach trennen. Bevor dieser Tag herankam, weil ich in eine kleinere Wohnung umzog, setzte ich mich regelmäßig hin und nahm die kurzen Stücke auf, die mir jeweils einfielen. Zu einigen sang ich – ich, der sonst nie sang – und zwar in einer aus der Not des Nichtsängers geborenen Technik: ich gab sowohl beim Aus- als auch beim Einatmen Töne von mir. Es klang so, als hätte ich mir das von dem stets Luft holenden Akkordeon abgelauscht.

Beim Recherchieren zu Brendel stieß ich auf eine Seite für Klavierunterricht. Es ging um die richtige Übersetzung des Wortes „soft pedal“ und. In den „Fundamentals of Piano Practice“ wird das etwas genauer erläutert: „Das linke Pedal wird meistens Dämpfer- bzw. Dämpfungspedal oder Sordino genannt und das rechte Pedal als Haltepedal oder Verlängerungspedal bezeichnet. Neuerdings gibt es aber auch Quellen, in denen die Namen der Pedale an die englischen Ausdrücke angeglichen sind. Darin wird nun das rechte Pedal als Dämpfer- bzw. Dämpfungspedal (damper pedal) bezeichnet und das linke u.a. als Pianopedal (soft pedal). Es ist mir bisher nicht gelungen, den Ursprung dieser neuen Bezeichnungen ausfindig zu machen. Solange ich nicht weiß, ob es sich hierbei wirklich um eine neue Wortbildung in der deutschen Sprache handelt oder die Änderung nur durch eine weitergetragene Falschübersetzung der Ausdrücke "damper pedal" und "soft pedal" entstanden ist, werde ich die bisherigen Begriffe im Text beibehalten.“

Ich stellte mir die Frage, was der Einsatz des linken oder rechten Pedals bei einem Projekt wie diesem bewirken könnte. Ich denke, ich benütze – wie in der Realität auch – recht oft und ohne darüber nachzudenken beide: das linke, um, meinem Temperament entsprechend, das Aufkochen von Beziehungsgeschichten zu vermeiden; und das rechte, um die Dauer eines Ereignisses, auch dessen Erinnerung, zu manipulieren.

(19. Dezember 2006, 10:41)

Dienstag, 14. Mai 2013

FL-18 Fliege (Notizen)

Brendel 3

Auf der Suche nach genaueren Informationen über das Verhältnis von Brodsky und Brendel fand ich einen Artikel im „New York Review of Books“ vom 21.11.1995, mit dem Titel „Beethovens Triumph“. Darin werden zwei Bücher über Beethoven rezensiert:

"'Zuhören in Paris' ist ein originelles Buch voller guter Ideen. Es beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie man in Paris Musik hörte, beginnend mit den Opern von Rameau Mitte des 18 Jhs. und endend mit den Kapiteln „Beethoven triumphierend“ und „Das Musikerleben der Romantik“. Johnson verfolgt die Entwicklung der Aufmerksamkeit, den Wechsel von einem Publikum, das während modischer Opern angeregt schwatzte, zu einer Öffentlichkeit, die in religiöser Stille lauschte. Sein Buch ist ein Essay über die Geschichte des ästhetischen 'Empfangs', das heißt, es handelt von der Reaktion des Publikums auf die revolutionären Wandlungen der westlicher Kunstmusik, die während des Lebens von Beethoven stattfanden...“ (5427 Wörter)

Ein Weiterlesen wäre möglich gewesen, wenn ich die elektronische Ausgabe der Zeitschrift zu einem Preis von $ 66,- subskribiert hätte. Variante: für jeden einzelnen Beitrag $ 3,- zu zahlen. Da ich das aber nicht wollte, konnte ich weder Brodskys Gedicht „Via Fumari“ (257 Wörter) noch J. M. Coetzees Rezension von Brodskys Essayband „On Grief and Reason“ (4472 Wörter) lesen.

Doch der Brief Alfred Brendels an die Herausgeber der Zeitschrift ließ sich öffnen:

„Ich bedaure sagen zu müssen, daß Charles Rosens Interpretation von Beethovens Vorgabe zur zweiten Fuge in Op.110 'L'istesso tempo della Fuga — poi a poi di nuovo vivente — nach und nach wieder auflebend' ein Mißverständnis ist... Wenn Beethoven vorgehabt hätte, eine 'allmähliche Beschleunigung' zu verlangen, was er gemäß Rosen tat, hätte er dafür eine andere Formulierung verwendet: etwa 'poi a poi sempre più allegro' (op. 111), oder vielleicht 'poi a poi più vivente'. Das Schlüsselwort in seiner Vorgabe ist 'di nuovo' ('wieder'). Das Stück wird wieder lebendig, ohne daß es mit noch mehr Leben behaucht werden müßte.

'Allmählich lebendiger werdend' ist ein psychologischer Hinweis, der auf alles zutrifft, was in der Musik geschieht. Der Musiker sollte nicht zögern, darauf zu reagieren und ein wenig Dynamik innerhalb des una corda-Bereichs hinzufügen. Alfred Brendel, London, England“

Charles Rosen antwortete:

„Es ist absurd, darauf zu bestehen, daß 'dasselbe Tempo wie die Fuge – langsam lebendiger werdend' – nicht auch als Aufforderung zu einer geringfügigen und allmählichen Beschleunigung des Tempos aufgefaßt werden kann, besonders da die betreffende Seite verlangt, das Hauptthema zu transformieren, zweimal so langsam zu spielen und schließlich zum ursprünglichen Tempo zurückzukehren. Alfred Brendels Lesart ist die traditionelle, und ich bin nicht so töricht zu behaupten, daß Beethoven, hätte er gewollt, daß seine Vorgabe eine Zunahme an Dynamik bedeutete, das nicht eindeutiger angegeben hätte – durch 'poi a poi più forte'.

Jede Entscheidung muß schließlich aufgrund einer Abwägung der Tempoverbindungen des ganzen Werks getroffen werden. Doch ich denke, daß das Hinzufügen von zu vielen dynamische Akzenten zu den vierundzwanzig Takten Beethovens für Pianopedal (mit überhaupt keinen anderen dynamischen Hinweisen) die Einfachheit verlieren würde, von der Prousts Großmutter zu Recht behauptete, daß sie sowohl der richtige Weg sei, eine Beethoven-Sonate zu spielen als auch Besucher zu empfangen und Rindfleisch mit Kartoffeln zu kochen."

Diese kurze, nicht unwitzig ausgetragene Kontroverse über die Interpretation musikalischer Vorgaben hat mich kurz belebt und mein infolge fehlender Praxis schlechter gewordenes Englisch ein wenig aufgefrischt.

(18. Dezember 2006, 20:23)

Sonntag, 12. Mai 2013

FL-17 Fliege (Notizen)

Brendel 2

Die „40 CD BOX“, die ich hinter einem Stoß Bücher gefunden habe, beinhaltet „The Complete Masterworks Ludwig van Beethoven (1870-1827)“. Der Pianist ist allerdings nicht Alfred Brendel, sondern John Hill. Die Box scheint bei Zweitausendeins gekauft worden zu sein.

Zur Beziehung von Brodsky zu Brendel: aus einem Artikel im "Indepedent on Sunday" vom 23.1.2005 entnehme ich, daß diese über den Schriftsteller Al Alvarez initiiert wurde, und zwar in dessen Wohnung im Londoner Stadtteil Hampstead. Alvarez: „Ich erinnere mich daran, wie ich Alfred das erste Mal hörte. Ich war in meinem Auto in Hampstead. Ich habe dieses Schubert Impromptu gehört und gedacht: Jesus Christus, wer spielt denn das? Das ist die schönste Interpretation von Schubert, die ich jemals gehört habe."

Brendel war für ihn sofort attraktiv, weil sein Vater und dessen Familie sehr musikalisch waren und er in einem Haus aufwuchs, wo es immer Musik gab. „Und natürlich weiß man, wer ein Genie ist - und Alfred ist eines.“

Er erkannte, was Brendel braucht: jemanden, der mitfühlend zuhören kann. „Also sitze ich dort in einem Stuhl vor einem kolossalen Klavier. Es ist, als wäre man bei der Schöpfung anwesend.“.

Bestimmte Eigenheiten teilt Brendel nicht mit Alvarez: sein Interesse am Pokern, Bergsteigen, am Besuch von Bohrinseln, obwohl er sich freut, darüber in dessen Büchern und Artikeln zu lesen. „Auch schwimme ich nicht jeden Tag wie er in den Badeteichen auf Hampstead Heath. Ich habe auch keinerlei Verlangen, in einem zweisitzigen Flugzeug über Neuseeland zu fliegen. Ich habe einen vorsichtigeren Zugang zum Leben.“

Doch auf einer bestimmten Ebene ergänzen sie einander: „Wenn ich jetzt ein neues Programm zu spielen beginne, bitte ich Al darum, herüberzukommen und zuzuhören. Ich verwende ihn als Testperson, damit ich meine anfängliche Nervosität verliere. Ich schätze die Art, wie er das macht - ruhig und sehr gut informiert, aber nicht professionell. Ich weiß, daß dies von seiner besonderen Beziehung zu seinem Vater kommt, davon, daß sie zusammen klassische Musik gehört haben. Ich setze also eine Tradition fort".

Dann gibt es noch die gemeinsamen Essen, wo auch Brodsky aufscheint: „In ihrer kleinen Küche habe ich viele interessante Leute getroffen - Claire Bloom und Philip Roth zum Beispiel; und Joseph Brodsky und David Cornwell, besser bekannt als John Le Carré.".

Und die Literatur: „Eine andere Gemeinsamkeit zwischen uns ist, daß ich selbst auch Lyrik schreibe, auf Deutsch. Ich habe mit Übersetzungen begonnen, und Faber hat daraus ein kleines Buch zusammengestellt. Dann ist der Moment gekommen, in dem ich Al diese Gedichte zeigen mußte. Ich war sehr besorgt, weil Al für seine kompromißlosen und unverblümten literarischen Ansichten bekannt ist. Ich habe gedacht, daß dies das Ende unserer Freundschaft sein könnte, aber glücklicherweise war es das nicht. Er mochte sie."

Ich hatte irgendwo davon gelesen, daß von Brendel auch Bücher existieren. Ich habe keines. Hier will ich trotzdem ein Gedicht von ihm einfügen, und nicht nur deshalb, weil darin das Wort „Fliegen“ vorkommt:

Alfred Brendel
Engel und Teufel I


Im Paradies angekommen
fragen wir uns
skeptisch bis zum letzten
Was geht hier eigentlich vor
Taube dürfen hier Musik hören
Musiker müssen aufspielen
Stumme haben sprechen gelernt
Redende beginnen zu lallen
Die Lahmen laufen wie die Wiesel
wenn sie nicht in der Luft herumfliegen
Wir Machtlosen
bleiben machtlos
etwas elegisch
geben wir uns damit zufrieden
sehen zu wie Häßliche schön werden
Engel
mit geschwärzten Flügeln
vom Himmel fallen
und die Schlange am Baum
uns entgegenzüngelt
Aus den Schlupflöchern des Himmels kriechen sie
noch leicht benommen
stoßen vogelblind
an Fensterscheiben
umflattern
golden rötlich oder nachtblau
das Klavier
fressen die Fliegen
und betten sich
schön wie Päonien
auf unseren Kissen zur Ruhe
zitternd vor Kälte
mit den Flügeln das Haupt bedeckend

Daß es Teufel
im Grunde gar nicht gibt
hat uns kürzlich
der Leibhaftige selbst verraten
Wir haben dies
betrübt zur Kenntnis genommen
und beschlossen
in Zukunft
uns selbst an die Wand zu malen

(aus: Alfred Brendel, Spiegelbild und schwarzer Spuk, Gedichte, 2003, Hanser)

(17. Dezember 2006, 15:47)

Freitag, 10. Mai 2013

FL-16 Fliege (Notizen)

Brendel 1

Am Heimweg vom Einkaufen: zwischen den alleinstehenden Einfamilienhäusern zu beiden Seiten der Straße gibt es auch solche, die zu dritt oder viert zu Reihenhäusern zusammengefaßt sind. In einem länglichen Garten dazwischen erblickte ich zum ersten Mal vier Schafe. Sie standen an dem lockeren Drahtzaun und rührten sich nicht. Sie wichen auch nicht zurück, als ich mich ihnen näherte.

Das vorne stehende Schaf ließ sich über den Kopf streichen. Das Fell war feucht von dem Wasser, das aus der Luftfeuchtigkeit kondensiert war. An einigen Stellen hatten sich Eisklumpen gebildet, weil die Temperatur beim Gefrierpunkt lag.

Dieses Schaf durfte ich auch an der Kehle kraulen. Es öffnete bald das Maul, nur einen Spalt, streckte aber nicht die Zunge heraus, wie ich das als Kind bei den Rindern und Ziegen erlebt hatte.

Es wäre mir jetzt nicht unangenehm gewesen, wenn es begonnen hätte, meine Hand abzuschlecken. Ich stellte mir seine schmale rosige Zunge vor. Hätte es an einem Mantelärmel zu knabbern begonnen, wäre ich einen Schritt zurückgetreten.

In kurzer Zeit entstand eine innige Situation. Ich bewegte sanft meine Finger über die Kehle des Schafes, und es hielt still. Währenddessen erinnerte ich mich, daß ich vor langer Zeit die Aufnahmen aller Klavierwerke Beethovens auf CD, gespielt von Alfred Brendel, geschenkt bekommen, aber das Wenigste gehört hatte.

(16. Dezember 2006, 11:17)

Mittwoch, 8. Mai 2013

FL-15 Fliege (Notizen)

Brodsky 3

Es gibt einen Entstehungsvermerk zu „Fliege": 1985. In diesem Jahr begann Brodsky von neuem, Weihnachtsgedichte zu schreiben, nachdem die ersten sechs noch in der Sowjetunion entstanden waren.

1973 verfaßte er sein Weihnachtsgedicht in Venedig. Er beklagt darin, daß ihn die Mutter seines Sohne verlassen hat. Erst nach einer 12jährigen Pause nahm er diesen Faden wieder auf. Seine Sehnsucht galt einer glücklichen Familie:

„Sie waren zusammen. Das wichtigste aber:
Sie waren zu dritt. Und so wird jede Habe
und Gabe und Gabel seitdem (mittlerweile)
gespalten in mindestens drei gleiche Teile.“

Elf Jahre blieben ihm noch; einige mit einer neuen Frau, einem neuen Kind.

Was mir am wechselbälgischen Brodsky-Sound gefällt, läßt sich am folgenden recht gut ablesen:

„Marx hatte recht: Für die großen Horden
läßt sich das Dasein nicht besser ordnen!
Nur wäre ich längst beseitigt worden, /
ging es nach ihm . . . Wer verdient am Saldo? -
Hab' keinen Schimmer von all dem Plunder.
Daß ich noch lebe, ist ein Wunder,
Verzeihn Sie mir, doch ich bin so munter
und verlass' die Epoche mit einem Salto!"

Schon mehrmals hatte ich daran gedacht dem Brodsky-Herausgeber und –Übersetzer ein Mail schreiben. Vielleicht könnte er mir Auskunft über die näheren Umstände der Entstehung von „Fliege“ geben.

Anzufügen wäre noch, daß dieses Gedicht eine Widmung trägt: „Für Irene und Alfred Brendel“.

(15. Dezember 2006, 12:21)

Montag, 6. Mai 2013

FL-14 Fliege (Notizen)

Brodsky 2

Im Moment vermische ich Monate und Jahre. Ich erinnere mich nicht, in welchem Jahr ich das Grab Brodskys besucht habe. Ich könnte auch keine Zeichnung davon machen. Das wäre der Test für mein visuelles Gedächtnis gewesen. Ich könnte aber auch nicht das Grab Pounds skizzieren. Es war jedenfalls größer als die anderen in der Umgebung und immergrün überwuchert. Kein Bild, keine Formen, nur die Tatsache der Anwesenheit.

Gleich kommen mir Zweifel, ob ich nicht ein anderes Grab meine. Ich habe mir an so vielen Orten Gräber angesehen, auch die von Schriftstellern, Komponisten und Künstlern. Ich gehe überall auf die Friedhöfe. Aber ich interessiere mich auch für die Müllentsorgung, das Spitalswesen, die Geburtenrate, die Ladenöffnungszeiten usw.

Warum bringe ich Stifte mit Brodsky in Verbindung? Ich habe ein Foto gefunden. Es stammt aus dem Jahr 2004. Schlichter, schlanker, heller Marmor. Oben ein bogenförmige Abschluß, darauf Steinbrocken. Der Name in der Kyrillika – „Иосиф Бродский" – und auch in Lateinschrift: „Joseph Brodsky. 24.5.1940 - 28.1.1996". Unten angelehnt ein Kranz mit goldener Schleife und einem Schriftband, dessen Aufschrift größtenteils von mehreren Blumenstöcken verdeckt wird: gelbe, rosafarbene und rote Blüten. Zu lesen ist nur: „В Е Ч Н А Я ..." Links davon ein eingeschweißtes A4-Blatt, mit einem Farbfoto Brodskys. Oben die Zeile: „Venezia per Brodskij". Und unten auf der Umrandung ein verwittert erscheinender Blumentopf voller Kugelschreiber in verschiedenen Farben.

(14. Dezember 2006, 17:02)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

Fliege. Roman eines Augenblicks

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