Dienstag, 5. Januar 2016

0126-1a AUCH EIN ABGANG

die gnädige frau sprachgestört wohnt sie
seit einem unfaßbaren familiären schreck
da hinterm herrschaftlichen gitter
im herrschaftlichen schloß
Neuschönbrunn genannt von neidischen verwandten
gleich gegenüber den argwöhnisch vergitterten
fenstern des alten herrn der sie höchstens einmal
am tag zum luftschöpfen öffnet.
über die gnädige frau
laß ich überhaupt nix kommen,
sagt die wirtschafterin, erst gestern abend
rausgeschmissen von der heut woanders
weilenden gnädigen in der frauenrunde der övp
vielleicht jedenfalls viel wichtigeres tuend
als gold & silber zu hüten
die ungeheuer sensibel
von überall her zusammengetragenen möbel
die amerikaner in der garage
oder die kostbaren weine der klosterneuburger chorherrn.
im stiftskeller sitzend beim vierten viertel
denkt die auf straße gesetzte
nach der zehnten zigarette an die verrückte verwandte
der gnädigen die an allem schuld ist:
die hat sich da eingeschlichen
um sie da rauszuekeln
nach drei wochen probezeit
um in abwesenheit der gnädigen ihrer schwägerin
den prunk den wert und das originelle zusammenpassen
der gegenstände zu genießen als wärens
die eigenen und ein bisserl tischerlrücken
zu spielen unter der ungeheuerlichen vorstellung
das sei alles unverrückbar
ihr eigentum mit eigenem schweiß und eigener arbeit
sinnvoll und planmäßig
zusammengerafft hier angehäuft
von ihr als wär ihr verpfuschtes leben
nur verpfuscht durch den zufall der zeitläufte
durch die unselige verkettung
mit ihrer mutter durch ihre gutheit ihre ekelhafte
mischung aus gutheit und dummheit
naivität und raffinesse besonders dann
wenns um den erwerb alter sachen geht
aus dem volksladen zum beispiel
nicht kostbare alte sondern nur
alte gebrauchte von menschen zur hand
genommen mit den spuren
des zurhandnehmens des lebens mit ihnen.
die gnädige war unvergeßlich,
sagt die wirtschafterin, in ihrem weißen nerz
auf der teppichbelegten stufe stehend
als sie der schlag traf
sozusagen zur erinnerung ihrer selbst
erstarrte – ich laß nix über sie kommen
auch jetzt nicht hier auf der straße
mit meinen büchern französischkenntnissen
beschwipst und wie immer häßlich
ohne einem ordentlichen mannsbild
in greifnähe nur ein schwerhöriger diener
mit dem sichs nicht einmal durch den austausch von zigaretten
flirten läßt zur entzündung des herrschaftlichen hauses
etwa: wenn man böses dächte
was die aber nicht tut wie sie sagt.
aber alles brennbare würd sie jetzt
liebend gern auf diese verrückte stürzen
ihr die erkenntnis über sie in die haut
brennen damits ihr einmal aufgeht
unter die haut geht was sie eigentlich ist nämlich
ein waschlappen ein nichtsnutziges hunderl
das sich zwanghaft nützlich
machen muß unentbehrlich eine gezeichnete
wie ich, sagt die wirtschafterin,
die sich aber letzten endes noch schamloser
ausnutzen läßt und daher noch schamloser
verbündet mit jenen die sie und die
vor ihnen schamlos ausraubten.
den lebenserwerb von 10 jahren in 10 pappschachteln
in einem taxi läßt sie das alles und sich
zum südbahnhof transportieren
in erwartung einer lauwarmen nacht
im warteraum.

(1974)

(Veröffentlicht in: DIMENSION, Contemporary Arts and Letters, Vol. VIII, No. 1 & 2, 1975)

Dienstag, 29. Dezember 2015

0126-1b A KIND OF DEPARTURE

the lady of the house speech-impaired
since an incomprehensible family fright
she lives there behind manorial bars
in a manorial castle
called neuschönbrunn by jealous relatives
right across the distrustfully barred
windows of the old man who opens them at most once
a day for a breath of air.
i don't let anybody
knock the lady
the housekeeper says, thrown out only
yesterday evening by the lady who is tarrying
elsewhere today in the women's circle of the austrian people party
perhaps doing things more important
than tending gold & silver
the furniture collected from everywhere
with tremendous sensitivity
the american cars in the garage
or the expensive wines of the klosterneuburg canons.
sitting in the convent cellar with the fourth quarter-liter
after the tenth cigarette the woman thrown out in the street
thinks of the lady's insane relative
who is to blame for everything:
she only sneaked in
to disgust her into leaving
after a trial period of three weeks
in order to enjoy in the absence of the lady her sister-in-law
the splendor and the value and the eccentric harmony
of the objects as though they were
her own in order to play a little at
rearranging tables under the monstrous impression
everything is immovable
her own property with her own perspiration and effort
sensibly and deliberately
swept together piled up here
by her as though her wrecked live were
only wrecked by accident the times
by the fatal link
to her mother through her goodness her disgusting
mixture of goodness and stupidity
naiveté and refinement especially
in acquiring old things
from the thrift shop for example
not expensive old but only
old used articles handled by people
with marks of handling
of life on them.
the lady was unforgettable,
the housekeeper says, in her white mink
standing on the carpeted stairs
when she had the stroke
stiffened in memory of herself
so to speak - I won't have people knocking her
not even here now on the street
with my books knowledge of french
tipsy and ugly as always
without a decent man
oh an ordinary man image
within reach only one a partially deaf servant
one can't even flirt with
by trading cigarettes to fire up the manorial family
if one perchance had wicked thoughts
which she however does not as she says.
but now she would dearly like to
dump everything combustible on this insane woman
burn her perception of her into her skin
so that she gets it into her head
gets it under her skin what she really is
namely a dishrag a useless puppy
that compulsively must make itself
useful indispensible a marked woman
like me, the housekeeper says,
who however in the last analysis lets herself
be taken advantage of still more shamelessly
and therefore still shamelessly allied with
those who shamelessly exploited her
and those before them.
the life acquisitions of 10 years in 10 cardboard boxes
in a taxi she have them and herself
transported to the station
expecting a very mild night
in the waiting room.

(1974)

(translated by Graydon Ekdahl, published in DIMENSION, Contemporary Arts and Letters, Vol. VIII, No. 1 & 2, 1975)

Mittwoch, 23. Dezember 2015

0107a - THE TEACHERS

the teachers leave
the school the prettiest teacher too
escapes the pupils'
twiddling thumbs the gong
is taken along the sponge
drips into the afternoon it is raining
chalk & rhetoric from the notebooks

the facade lovers
come out from their hiding places
behind the sand & the heaps
they have their plans
planly on their breast
between the cheeks of their naked asses
the past century florishes

here there was a meadow now
only the oats felt by the pupils
grow and verdigris
on the faces the janitors
are all one-eyed cleaning ladies
smell like vinegar in the cellar
a mound of discarded sandwiches
is kept for hard times in the attic
beat up furniture
as perverse proof
for irreducible repression

the teachers observe
the behavior of passers-by
on the streets clothing and hair style
the associations sit cramped
between the ears sports
as a remedy for sexuality
swollen tongues
between the teeth a multitude
of squandered sounds squandered
hours swollen fingers
between their thighs the teachers
observe their responsibility

(1971)

(translated by Graydon Ekdahl, published in DIMENSION, Contemporary Arts and Letters, Vol. VIII, No. 1 & 2, 1975)

(Deutsch hier)

Samstag, 19. Dezember 2015

DT-001 FETISCH

(YVONNE)


ihre weiße Bluse steif, ein Fetisch,
der mich noch jetzt aufstachelt und jagt.
Als Fetisch saß sie neben mir in ihrer
verwerflichen Gestalt im Bus, Zeugs flüsternd,

und während sie lächelte, wußte ich,
es war eine Kopfgeburt. Ebenso ihre
Zunge, die als Fetisch aus ihren Ohren
hervordrang, inmitten ihrer pechschwarzen Haare.

Nach so vielen Jahren aus Russland
nähert sich devot ein pechschwarzes Fräulein,
was die Vergangene nie gewesen wäre.
Die steigt mit mir noch immer auf den Kirchturm,

und beide tapfer vorbei am Perpendikel,
der aus der Dunkelheit vorbeisaust, unheimlich
zischend, sodass wir zur Kirchturmuhr
hinauf flüchten müssen, die jede Sekunde knackt.

Von Zahnrädern oder Mechanik keine Spur
bei jener, die ohne es zu deklarieren nur eine Neuauflage
sein kann. Trotzdem: schön wie ein schalenloses Ei
jeden Morgen fällt mir ein neues Foto

ins Mailfach, und jedes zeigt eine neue Frau,
die doch, genauer betrachtet, nur eine Variation
derselben russischen Fetischwilligen ist, rätselhaft
ansatzweise mit Lächeln, die einander

gleichen in ihrem tiefgründigen Sanftmut,
die keinerlei Forderungen verbirgt, außer
jenen, die sich in mir von anderen breit
gemacht haben, Relikte jeder Verabschiedung.

Schwer fassbar, dass sie als Wiedergängerin
kein Irrtum sein soll. Denn alle Ankündigungen
entsprechen den Versprechen von damals.
Was jetzt da ist, ist zugleich weit weg.

Was damals schüchtern angeknüpft wurde,
hatte eine klare Ablaufzeit, angezettelt
von besorgten Eltern. Jetzt der autonome Irrtum,
geheimnisvoll fortgepflanzt über Grenzen und

auf eine gewisse Weise undurchdringlich.
Der weiße Monitor ist weiblich, der neue Fetisch,
beruhigend in seiner Affinität zum täglichen
russischen Frauengesicht, dessen Spiel mit dem Ernst

(Dienstag, 27.10.2015, 8.15 Uhr

Dienstag, 23. Juni 2015

DZL-18 DAS BETT

das Bett, das alles verraten wollte
und nichts verriet: nichts über die Lampe,
die sich über die sieben Polster
hinwegbog, neben denen ich, dicht

an die Mauer gepresst, oft unvermittelt
einschlief. Nichts über die Herkunft der Polster,
die sich schnell von selbst auftürmten,
links neben dem Kopf, Lichtschutz,

zugleich durchscheinend für all das Licht,
das die ganze Nacht draußen brannte.
Nichts über den Tag, der zur Nacht
gemacht wurde, ungefragt, ohne Groll:

alles, was in die Vergangenheit wies,
hatte da in Ordnern, Mappen sich angehäuft,
auf Disketten, Festplatten und Sticks:
so oft unzugängliche absurde lokale Poesie.

Diesen Raum konnte ich mir
jederzeit umschnallen. Er konnte mir
den Atem nehmen, mir ein ausgelagertes
Gedächtnis vorspiegeln, Stufen,

die in Gänge, Gewölbe hinabführten,
Tische, die sowohl der Niederschrift
als auch weiteren Lagerung dienten,
Fensterbretter, auf denen sich Mitbringsel

aus allen Weltgegenden ansammelten.
Es konnten auch jederzeit neue Tuchenten
und Decken auftauchen. Sie konnten blank
oder voller unvorhersehbarer Verse sein,

gedruckten, auch handgeschriebenen,
die sich von selbst vorlasen,
und zwar mit meiner eigenen Stimme,
über die sich dann fremde Stimmen legten.

Bett unter mir, auch zu beiden Seiten.
Zu manchen Zeiten eine Art Seidenhimmel,
wenn ich aufblickte, der allerdings nie
die Farbe des natürlichen Firmaments annahm.

Bett, so nah wie die staubtrockenen Leintücher,
Tücher überhaupt, schwarzen Hemden,
alles Schwarze und Rote, die Bluttaten,
die Wundmale, der Nabel, das Geschmeide

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition
Korrespondenzen, 2015
)

(Rezension: fixpoetry)

(Rezension: Literaturhaus Wien)

Montag, 1. Juni 2015

DZL-17 PUPPI

was zu sehen ist, in einzelne Stücke zerlegen;
alle diese Kunstfiguren in weibliche Anatomie
auffächern; Männer in den Hintergrund stellen.

So wiederholt sich die Idee des Erzeugers auch
im eigenen Kopf: Gender-Bending. Daran,
wie er das Skelett aus Holz und Metall

ummantelt hat, denke ich nicht. Überhaupt nicht
an ein ganzes Ding: Die Gliederpuppe tritt
aus dem Ursprung hervor, wie sie sich

von der Bauchkugel aus langsam zusammenfügt.
Wie sie voller Beweglichkeit sich von Anfang an
Autonomie simuliert. Wie eine Vielfalt von Posen

den Betrachter zum Mitakteur machen, wenn auch
nur durch Blickfang. Nie werden ihn wirklich
Puppis Augen verfolgen; er darf sich das aber wünschen,

auch bei Brustaugen, Handaugen, Augen – und damit
Blicke – vom Nabel, von den Kniescheiben aus,
direkt einleuchtend, zutiefst nebulös

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Montag, 4. Mai 2015

DZL-16 TROMPETER

Trompeter ist kein Einbildungsmann.
Ich sah ihn zum ersten Mal im Hegelhof.
Vielleicht hatte Hegel keine Trompete, auch
keinen Hof, der Mann hatte keine Hegeltrompete.

Kehle und Unterleib erfüllt aber Trompeter
in seiner spontan inszenierten competition
mit seinen Doppelgängern. Die vielen jungen Männer,
wie sie so enggedrängt und äußerst aufmerksam

zur Tür hin schauen, auch auf den Kreis
in der Mitte, wo nur Trompeter steht,
alle andern, auch der mögliche Schlagzeuger,
stumm und ganz Ohr. Es gibt nur Trompeterton,

der sie alle trifft, das Kommando
zum Lauschen und Sitzenbleiben, eine zutiefst
befriedigende, noch unsichtbare Lähmung.
Trompeter scheut wie so oft das Licht,

berührt den Sampler mit seinen nackten Zehen,
wird nicht frieren. Er beugt sich nach rechts
und nach links; in gewissen Abständen tropft dann
Speichel ab, für die meisten nicht wahrnehmbar.

Trompeter streckt die Trompete dem Mikro entgegen,
dreht sie nach oben, über den Kopf hinweg,
das alles beinahe in völliger Dunkelheit,
als wär die unbemerkt von der Decke herabgesunken.

Trompeter ist eine Weile nur Nachbild,
während das Raue, der Stoß, die Stoßfolge
durch den Sampler vorbereitet wird auf viel sanftere
Weise als beim noch unbegleiteten Stück.

Nur kurz ist Trompeter allein mit seinem Instrument.
Danach tritt die Trompete vielfältig
aus allen Lautsprechern hervor, als wär sie
eine fremde, aus der Ferne herbeigeholt.

Trompeter gibt sich am Ende die Gelegenheit,
seiner Trompeterstimme zu antworten, mit einem Dauerton,
zu dem er sich Luft holt aus beiden Backen,
während ganz von allein die Nase weiteratmet

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Mittwoch, 22. April 2015

DZL-15 JUNGE FRAUEN AM BALKON

dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen:
zwei junge Frauen, die einander fotografieren, nur für ihn

in den Spalten der Fensterflügel auf dem Balkon sichtbar;
das erleichtert den Voyeursblick, der schon das schrittweise

Abtasten jedes Zentimeters Haut am Monitor vorwegnimmt.
Beide mit Hüten, braunen Sandalen, als wären sie ein-

und dieselbe. Sie treten mit anderen ins Bild, inzwischen
Hinzugekommenen, federnd, rollen die Füße ab, stellen sie

lässig nebeneinander hin, grätschen die Beine, verschränken
die Schenkel, während sie oben Model und Fotografin sind,

nur aufeinander ausgerichtet, ungeachtet der überwältigenden Kulisse.
Zwischen ihnen das unbedingte Glück dieses Moments:

Man nimmt Posen wie Freundinnen ein, deren Begehren
nicht stillgelegt ist, Lachen und Übermut. Von rechts

der kleine Mann hinter seiner noch kleineren Frau,
die ihren Schirm abwehrend dieser Mädchenansammlung

entgegenstreckt, während er die Brust wölbt, den Hals dehnt:
Er atmet puren Sauerstoff, fixiert auf die Halluzination derer,

die alle für ihn Töchter und Geliebte abgeben müssten, an Ort
und Stelle, zugleich Engel, ohne einen Hauch von Widerstand

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Sonntag, 22. März 2015

DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR ÜBERTRÄGER

es begann mit strahlenden Augen,
auf einer Schnitzerei im Rasen vor der Pulmologie.
Und gleich hinter der Tür der Mundschutzspender:

Wir zogen uns die Dinger schnell über,
denn an jeder weiteren Tür
klebte ein Plakat mit Mundschutz-Gesichtern.

Und oben der Griff zum Desinfektionsmittelspender.
Es roch »entsetzlich«; und »schrecklich«
die Farben der Möbel und Vorhänge –

Hellgrün, Lila, Braun, Schwarz, Rosa –,
die auf keinen Fall in ein Krankenhaus passten;
vier Sessel, zwei Schränke, Tisch und Bett; und Isolation.

Wir hatten den Kranken als Gesunden erachtet,
ihn überall berührt: an den Wangen,
Augen, Ohren, am Mund;

an den Gliedmaßen, am Geschlecht.
Wir mussten ihn pfleglich behandeln,
ignorieren die Eifersucht seiner Töchter,

zugleich eine Abfolge der Teilnahme arrangieren,
um gleichartig in den Genuss seiner Haut und Haare,
seines Fleisches zu kommen.

Über die Venen drangen wir in seine Lunge vor.
Dort konnten wir alle Verschattungen pflücken,
diese klebrigen Bakterienhäufchen,

die so gern in seinem Körper zuhause waren
und ins Unendliche zu wachsen schienen,
ungeachtet dessen, dass aus uns nun Überträger wurden

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Sonntag, 15. März 2015

DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN

Kontrolle verlieren, im Nebenraum,
wo alles aufgetürmt ist, was wieder
zurückgeräumt werden muss,

sollten die Geliebten je wieder kommen –
so oft verschoben ihr Gelübde,
hier Platz einzunehmen, Tisch und Bett

und einiges andere Lebenswichtige
nochmals zu etablieren. Kontrolle verlieren
auch ohne ein aufgespanntes Leintuch,

zwischen Sesseln, aufgehäuften
Polstern, auf Sofas, Matten, im Staub zu jeder
Tages- und Nachtzeit – es ist erlaubt.

Kontrolle verlieren: keine Schlafprobleme,
keine Selbstbestätigungsprozeduren,
kein Nacktheitsentschuldigungsgetue.

Einmal so schreien, einmal in herrlicher Wut sein.
Einmal in Windeln gegen die Wand fahren.
Einmal keine Körperverschlüsse denken.

Einmal begriffslos wie neugeboren.
Einmal entdeckt und Entdecker zugleich.
Einmal der unschuldig Lernende

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Dienstag, 24. Februar 2015

DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN

Gedichte zu fressen ist nicht
meine Sache. Ich lese langsam.
Ich verweigere das Lesen, oft auch das Essen.

Zur Not kommt in den Nächten so etwas
wie Kulturhunger zutage: hungrig
zu sein nach etwas nicht genau zu Definierendem,

in dem sich das Weiteste mit dem Nächsten verbindet,
die Pflanze mit dem Objekt aus dem Kuipergürtel.
Auch die Pflanze würde ich nicht fressen,

nicht weil sie nicht schmeckt oder noch grün ist:
ich habe sie schon so lang als Genossin akzeptiert,
dass sie ein Teil von mir zu sein scheint,

eine Leibesknospe. Vielleicht ist es deshalb
ein pflanzlicher Geruch, der mir entströmt.
Ich verströme mich schon jetzt als zukünftiges

Sediment, staubförmig oder als Film, der sich irgendwo
festsetzt und wuchert. Gedichte wuchern nicht.
Gedichte sprießen aus unterirdischen Quellen,

die wiederum sich von Metaphern nähren.
Ich hasse Metaphern, weil sie ein verkehrtes
Weltbild erzeugen: das allseits Zusammenhängende

ist zugleich das allseits Verdrängte.
Der enthüllende Wohlklang ist eine Leibeseigenschaft,
die sich im Lesen ereignet, als eigene geduldige Zutat

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Donnerstag, 12. Februar 2015

DZL-11 SCHWIMMERIN

wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren Booten
etwas wie ein Blitz ins Gesicht: die unerwartete Schönheit,
zugleich Verschlossenheit dieser Figur, die gar nicht strahlt,
aus ihrem Schatten heraus einen Moment lang alles stocken lässt.

Ein Zufall, dass die Vorbeifahrenden nicht nach vorne schauen.
Der Gondoliere gibt keinen Hinweis; nur ein glücklicher Impuls,
wenn jetzt jemand den Kopf nach links wendet, weg
vom fotografierenden Mann, vom Kind, Handy der Freundin,

und das Vorbeischweben stoppt, indem er im Reflex
mit allen Sinnesmöglichkeiten das Blickfeld erfasst und fixiert.
Nichts ist zu erforschen in diesem Moment, die Blitz-
erscheinung dieses Wasserwesens auf dem Silberball

setzt nur in der Phantasie Fragen in Gang, scheint sie doch
im Gleichgewicht zu sein, auch in einer höchst kippeligen Position.
Ihr Gesicht nicht zu sehen, nur die Badehaube,
ihr Badeanzug, die angezogenen Beine, die Knie

hinter den aufgepressten, viel zu großen Händen.
Man denkt vielleicht an ein Gleichgewichtszittern,
andauernde Anstrengung, nicht samt der Kugel ins Rollen
zu kommen, die vier, fünf Stufen herunter ins Wasser,

wodurch die sensible Verklammerung von Frau und Globus
mit einem Schlag gelöst sein würde. Ein rundes Ding
schwimmt, bleibt obenauf; doch die Schwimmerin –
in ihrer glatten dichten trockenen Schönheit, anscheinend

mit geschlossenen Augen, ohne Schwimmbewegungen -
taucht nicht mehr auf, verschwunden im Nachbild.
Zurückbleibt ein heftiges Drängen, zwingender Grund,
die Bootsfahrt gleich nochmals von vorn zu beginnen

(2013)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Sonntag, 1. Februar 2015

DZL-10 BRAUTMASCHINE

ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut.
Er braucht nur Gerümpel, das er an der Wand
so aufbaut, dass es ausschaut, als sei alles da
für eine eigenständige Hochzeit. Ein Mann braucht eine Braut,

die sehr verliebt ist, eine Holländerin vielleicht,
die er erst einmal im Leben gesehen hat, eine Schwedin,
die jedem das Bett überlässt, der arm und heimatlos ist.
Ein Mann braucht eine Zugsbraut, die mit Nachtzügen

vertraut ist, mit ungebremsten Waggons, mit Schlüsseln,
die Waggontüren sperren, mit schlaflosen Zugnächten.
Ein Mann braucht eine Flugbegleiterin, die es managen kann,
Botschaften während des Auftischens und Abräumens

zu hinterlassen, die es schafft, unter ihrer roten Uniform
ihren glatten dichten schweißlosen Körper auszustellen.
Ein Mann braucht eine Volksschullehrerin, die all ihr Zusatzmaterial
in Schachteln packt und von einer Schule zur andern wandert,

immer guten Mutes, gegen Unlust, Unverständnis
ohne Gesichtsverlust beharrlich anrennt. Ein Mann braucht
eine Bautechnikerin, der Männerwiderstand so in Sinn
und Geschlecht übergegangen ist, dass sie sich

ohne Schwierigkeiten aufpumpen kann in ihrem Overall,
auch die Stimme anpassen jeder Männerchorgruppe.
Es gibt viele Möglichkeiten, allein in einen Raum zu gehen
und begattet herauszukommen, zweifach beringt

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

Donnerstag, 15. Januar 2015

DZL-09 WIR GLAUBTEN AN DAS BLUT

wir glaubten an das Blut.
Dieses Wir ist mit Vorsicht zu betrachten:
Ich glaubte an das Blut,
das in meinem rechten Auge aufgetaucht war
und nicht verschwand.

Sie glaubte an mein blutiges Auge,
auch an ihre Schwarz-Weiß-Welt,
voller Symbole, Gleichnisse und Allegorien.
Wir diskutierten nicht, wir schrieben.

Die Zeiten der Gemeinsamkeit
spalteten sich auf in einen betriebsamen Tag bei ihr,
bei mir in die übertriebene Nacht.
Sie brach sich den Fuß auf der Promenade,
ich ließ mir die Linsen tauschen.

Ich beschrieb diesen Vorgang viel genauer
als sie ihren sogenannten Hinfaller am See.
Ich sah durch die Plastikaugenabdeckung
auf die Brillensammlung, die nun völlig wertlos war.

Ich glaubte an das Blut,
das jetzt aus den Augen tropfte,
auch daran, daß sie die Regentin der Blitze war,
die beim Kopfschütteln rechts und links auftraten.

Mir war das Blut wichtig,
man malt mit Blut, nicht mit Wasser.
Man lässt das eigene Blut in die Ferne schwappen,
um die aus der Ferne Schreibende heranzuholen.

Dem geht immer auch eine Art Lüge voraus,
eine Art Hoffnung, ein schleichendes Verschleiern.
Und Eintrübungen, Verschwommenheiten
die sich über jedes Bild gelegt hatten,
erzeugten tagblinde Bilddissonanzen,
prächtige Sehängste, die völlige Blindheit prophezeiten.

Blut auch, was ich aus ihren Sätzen herausgepresst hatte.
Ohne Ekel noch Lust, es aufzuschlürfen,
es war so abstrakt, so kalt, so klebrig, so unnachahmlich nicht ich.
Wäre es heiß gewesen, wär es augenblicklich
auf mich übergesprungen, mit einem Bilderregen.
Fraglich, ob ich mir diese fundamentale Nässe
je gewünscht hatte, auch nicht während der Operation.

Mit Blut hatte ich die Zeit gedehnt,
aber auch schrumpfen lassen.
Ich konnte es in meiner Faust zusammendrücken
zu unsichtbaren Blutmännchen,
auch Blutwürfel, Blutkegel, die tanzten.

Diese Frau war zuerst nur ein Foto gewesen,
immer wieder zwischen Versen aufgetaucht,
mit dunkel geschminkten lachenden Lippen.
Ich hatte sofort ihren sehr blauen Augen vertraut,
der ein wenig verwischten Augenumrandung,
den zum Kinn hin gebürsteten Haarspitzen.

Es war ihr geneigter Kopf,
der mein Blut stoppen konnte, die bloßen Schultern,
die Andeutung eines starken Willens
zur Umwölbung aus der Ferne.

Sie lag auch auf einer Couch,
nicht mit mir, einem nackten Tätowierten,
der niemals ich sein könnte;
ich bin ein Blutmann, kein Tattoomann,
keiner mit Hautverwandlungsphantasien.

Und dann so klein und kleinmädchenhaft
mit aufgestützten Armen im Schlafanzug
nach rechts blickend hin zu dieser Figurenkontur,
in die ich nie hineingepasst hätte.

Ich hatte sie gebraucht zur Niederhaltung der Angst,
die in mir aufstieg unter dem grünen Papiertuch,
wo mich der Bluttransport in meinem Körper ängstigte,
wo ich mich als allgemeine Blutquelle erfuhr,
während die draußen an mir herumwerkten.

In diesem linsenlosen Moment, im Gleißen,
das nicht zu vermeiden war,
war dieser Satz plötzlich nicht mehr gültig:
Wir glaubten an das Blut.

Das eine Wir hatte einen Gips am Fuß,
der nur maximal Dreiviertelschritte erlaubte;
das andere lag da und dachte nur:
Schluß damit, kein solches Licht

(2014)

(Erschienen in: Der zarte Leib, Edition Korrespondenzen, 2015)

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„...Dies ist der Versuch eines komprimierten Familienromans, zugleich ein Reisebericht, der an einen Ort führt, wo die Kriegsschäden an den Menschen und deren Behausungen noch unverhüllt sichtbar sind. Lena und Stefan, von den gegensätzlichen Seiten der Geschichte kommend, unternehmen, sich zwischen Überlebenden und deren Nachkommen bewegend, einen Versöhnungsversuch...“ (Klappentext)

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DZL-06 IN DIE HÖHE SINKEN
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DZL-07 TISCHLERPLATTE
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DZL-09 WIR GLAUBTEN AN...
wir glaubten an das Blut. Dieses Wir ist mit Vorsicht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:51
DZL-10 BRAUTMASCHINE
ein Mann braucht nur eine Wand und eine Braut. Er braucht...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-11 SCHWIMMERIN
wenn sich das Tor geöffnet hat, fährt allen in ihren...
e.a.richter - 2015-05-07 13:50
DZL-12 FRESSEN UND WUCHERN
Gedichte zu fressen ist nicht meine Sache. Ich lese...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-13 KONTROLLE VERLIEREN
Kontrolle verlieren, im Nebenraum, wo alles aufgetürmt...
e.a.richter - 2015-05-07 13:49
DZL-14 MUNDSCHUTZ FÜR...
es begann mit strahlenden Augen, auf einer Schnitzerei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48
DZL-15 JUNGE FRAUEN...
dem kleinen Mann macht die Situation einen Gefallen: zwei...
e.a.richter - 2015-05-07 13:48

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