Dienstag, 12. April 2011

D-05 ZWEI STÜHLE

an der Wand zwei Stühle:
hochhäuptig, kerzengerade.
Ich unterstelle ihnen die Wachsamkeit
der Besitzer, ihre Spitzelsucht.

Sie beobachten jeden Schritt,
jede meiner Handgreiflichkeiten,
strahlen zurück mit ihrem aufgeladenen Gedächtnis.
Es sind unsterbliche Pflanzen,

die nur Weltherrschaft anstreben.
Zur Beruhigung erzähle ich ihnen meine Träume,
den Schläfer links hinsetzend, den Wachen rechts.
Der Schläfer robbt sich auf einer Eisfläche voran,

zusammengeschobenes, wieder gefrorenes Packeis,
das sich wellenartig erhebt,
über opake und stellenweise glasklare Flächen.
Er bewegt sich unaufhörlich vorwärts

mit den hoffnungsvollen Schlägen
des Schmetterlingsschwimmers.
Plötzlich eine honiggelbe, nachgiebige Masse,
worin er versinkt.

Kaum wie von einer unsichtbaren Hand befreit,
steht er auch schon wieder am Ufer.
Der Wache verwickelt ihn in ein Gespräch,
befragt ihn zur Konsistenz dieses Stoffes,

zum Wunder seines Entkommens.
Er verweist auf den Kopfschmerz,
der den Schädel als Rosen-Kranz umgibt.
Gern hätte er sich auf des Schläfers Rücken gebunden,

eine Heliumblase im Brustkorb.
Noch besser: als Hubschrauberpilot
hätte er ihn sofort an einem Seil
aus der Gefahrenzone geschafft.

Doch der Schläfer sonnt sich im Traum,
beharrt auf eigenständiger Rettung.
Jetzt sind die zwei Stühle
Schatten, harmlos, gleißend

(Mittwoch, 14.7.1999, 11.30 Uhr)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

(Blick zum Nachbarn: Fragment 02.)

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