D-05 ZWEI STÜHLE

an der Wand zwei Stühle:
hochhäuptig, kerzengerade.
Ich unterstelle ihnen die Wachsamkeit
der Besitzer, ihre Spitzelsucht.

Sie beobachten jeden Schritt,
jede meiner Handgreiflichkeiten,
strahlen zurück mit ihrem aufgeladenen Gedächtnis.
Es sind unsterbliche Pflanzen,

die nur Weltherrschaft anstreben.
Zur Beruhigung erzähle ich ihnen meine Träume,
den Schläfer links hinsetzend, den Wachen rechts.
Der Schläfer robbt sich auf einer Eisfläche voran,

zusammengeschobenes, wieder gefrorenes Packeis,
das sich wellenartig erhebt,
über opake und stellenweise glasklare Flächen.
Er bewegt sich unaufhörlich vorwärts

mit den hoffnungsvollen Schlägen
des Schmetterlingsschwimmers.
Plötzlich eine honiggelbe, nachgiebige Masse,
worin er versinkt.

Kaum wie von einer unsichtbaren Hand befreit,
steht er auch schon wieder am Ufer.
Der Wache verwickelt ihn in ein Gespräch,
befragt ihn zur Konsistenz dieses Stoffes,

zum Wunder seines Entkommens.
Er verweist auf den Kopfschmerz,
der den Schädel als Rosen-Kranz umgibt.
Gern hätte er sich auf des Schläfers Rücken gebunden,

eine Heliumblase im Brustkorb.
Noch besser: als Hubschrauberpilot
hätte er ihn sofort an einem Seil
aus der Gefahrenzone geschafft.

Doch der Schläfer sonnt sich im Traum,
beharrt auf eigenständiger Rettung.
Jetzt sind die zwei Stühle
Schatten, harmlos, gleißend

(Mittwoch, 14.7.1999, 11.30 Uhr)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

(Blick zum Nachbarn: Fragment 02.)
e.a.richter - 2011-04-14 01:44

Notiz vom 13.7.1999

"Ich spalte mich öfter in einen Träumenden und in einen Wachen auf, wobei dieser den ersteren beneidet. Das hängt auch damit zusammen, daß ich mir gern mehr Träume merken würde. Wenn ich mich an einen Traum erinnere, bin ich sehr zufrieden und lasse ihn weiterwirken.

Im Buch von Yalom wird auf Foucault verwiesen mit dem Wort épisthème: ein dichtes Bild, das eine lebensbestimmende Struktur repräsentiert. Mir erscheint das Bild des Schwimmers auf dem Eis als ein solches. An diesem Traum gefällt mir, daß der Träumer am Ende nicht versinkt, sondern sich aus dem schmelzenden Eis erhebt und ans Ufer zurückkehrt. Er kann nicht über den Wassern gehen, aber sich immerhin aus dem brechenden Eis retten.

Der Wache weiß es besser und wäre gern selbst der Retter. Aber wie kann sich ein Wacher so wunderbar retten wie ein Träumer?"

BUCH BLOG - 2011-04-14 11:25

Ich hatte vor Tagen einen Traum, in dem es auf eine andere Weise existentiell zugeht .Nicht so explizit... Es gibt in letzter Zeit ein häufig wiederkehrendes Motiv, nämlich das der Rache. Das Gefühl verfolgt zuwerdens verfolgt mich dann den ganzen Tag... Ich frage mich, ob ich es mir danach besser ginge, würde ich mich als Wache in den Traum schwindeln können. Für wenn würde ich mich entscheiden, für den Angreifer oder den Rächer?

Der Traum
Ich bin verletzt worden. In der Höhe der Eierstöcke hab ich einen tiefen Einstich. Blut rinnt heraus es ist nicht zu stoppen...
Jemand will mich rächen, eine Art Robin Hood, er ist Bogenschütze und ich bin mit ihm in einer hügeligen Landschaft. Er übt das Schießen mit Pfeil und Bogen es geht um eine Wiedergutmachung .
Er hat aber ganz lange biegsame Pfeile, die er in die Gegend schießt, ich bin nicht überzeugt dass er ein guter Schütze ist.
In dieser Landschaft fühle ich mich verloren, begleite ihn aber trotzdem. Ich sehe den Pfeilen nach und wundere mich, wie ungeschickt er damit hantiert...
Szenenwechsel... Auf einem Fest treffe den Mann, der er mich anscheinendn verletzt hat und freunde mich mit ihm an. Ich finde ihn jetztganz sympathisch. Ich konfrontiere ihn mit meinen Wunden ich staune selbst über den Einstich vorne links, ein offenes schmales Loch. ich zeige es ihm, gleichzeitig denke ich, ich habe keine Scham...
Und ich bin jetzt doch nicht so überzeugt, , dass der Schütze, dieser seltsame Mann, jetztzur Rache schreiten soll und weiß auch gar nicht mehr , was wir vereinbart haben. Soll er den Mann umbringen oder nur verletzten? Mit seinen komischen Pfeilen, denk ich, kann er ihn ja eigentlich nicht töten.
Ich warne denjenigen, der mich verletzt hat. Ich will seine Schutzgöttin sein. Plötzlich will ich nicht mehr, dass Rache geübt wird. Ich muss den Bogenschützen aufhalten. ..
Auf einmal sehe ich den Rächer in der Menschenmenge. Er wirkt wie ein Drogensüchtiger und ist nicht mehr bewaffnet. Das beruhigt mich und ich beschließe, mich doch auf seine Seite zu schlagen,..
e.a.richter - 2011-04-16 14:55

Liebe B, ich wollte noch etwas zu deinem aufrüttelnden Traum schreiben; hab derzeit zu wenig Zeit. Doch hierher paßt sicher ein Zufallsfund, Sie schläft, von Kurt Tucholsky (1890-1935):

Sie schläft

Morgens, vom letzten Schlaf ein Stück,
nimm mich ein bißchen mit -
auf deinem Traumboot zu gleiten ist Glück -
Die Zeituhr geht ihren harten Schritt ...
pick-pack ...

»Sie schläft mit ihm« ist ein gutes Wort.
Im Schlaf fließt das Dunkle zusammen.
Zwei sind keins. Es knistern die kleinen Flammen,
aber dein Atem fächelt sie fort.
Ich bin aus der Welt. Ich will nie wieder in sie zurück -
jetzt, wo du nicht bist, bist du ganz mein.
Morgens, im letzten Schlummer ein Stück,
kann ich dein Gefährte sein.

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