O-14 VOM ZERBRÖCKELN DES CHARAKTERS
den wahren Titel eines Buchs: Vom Zerbröckeln des Charakters.
Ich dachte: Warum muß diese Frau in mir nur den Lügner sehn,
der nie aufhören würde zu lügen? Sie lachte hell auf, angeblich nur
über ihren toten Vater, der ihr vor Jahren erschienen war, im Traum.
Er gab ihr den Auftrag, nicht sie sich selbst. Ich bat sie, sich auf die Bank
zu stellen, auf mich herabzuschauen. Beugte den Kopf und schrie:
Vater, Vater! Schon vorher war ich entschlossen, mich nicht
zu unterwerfen. Keine Rechtfertigung, kein Hinknien, nicht einmal
eine Andeutung, kein zweckhaftes Betasten. Auch keine Geschichten,
die ihr den Kopf verdrehn oder gar Lust machen würden.
Wir gingen im Kreis, um den Ziegelturm von früher herum, außen
auf der Wendeltreppe hinauf bis zum Plateau. Von dort würde sie bald,
mit oder ohne Koffer, abfliegen, entschwunden sein nach Südosten,
zwischen zwei Augenblicken. Ihre nähere Zukunft – das Meer.
Salzwasser, nicht bei Sonnenaufgang – da wollte sie noch träumen:
von einem andern, losgelassenen Leben, mit Zeitmarkierungen,
die sie sich selber setzt. Zugleich immer noch oben im Flugzeug,
in der Bewegung durch die Luft zwischen zwei Orten, herbeigeweinten,
der Liebe und Wahrheit. Meditation, die das Rauschen ausblendet.
Auch die Medikamente, hilfreichen Frauenhandreichungen daheim.
Sogar das Wickeln, zur Körperverdünnung. Gewickelt, von oben
bis unten, auch der Kopf – Mumie, mit Plastiksäcken an den Füßen,
für das graue Körperwasser. So kamen wir in die Nacht,
ich ohne Orientierung, zu ihrer Erleichterung. Sie konnte das Gelenk sein,
ich der Gelenkte. Mit Schmiergeld, Dauerkatheder. Ein Hüpfen,
das der losen Kniescheibe. Schmerzte das Bein schon, als die Sonne
hintereinander mehrmals versank? War die Mitgängerin nahe Zukunft,
die sich in meine Traumwelt einschlich, neue Identitäten schuf, solche,
die sich schuldig fühlten, und solche, die beim Wort Schuld sofort zuschlugen,
aus schuldiger Erinnerung? Im Traum flog sie unter einem falschen Namen ab,
gleich in dieser Nacht. Doch im menschenleeren Flugzeug saß nicht sie
zwischen den Sitzen, damit auch den Geschlechtern, sondern ich.
Sie kam zu spät, an meiner Stelle. Wie ruchlos – Austausch als Ablenkung
davon, daß ich hinter allem her war, sie aber das meiste gleich ausschied,
aus Zeitmangel! Meine gestohlene Zeit, die sich blasig anfühlte, Atemnot
erzeugte, Einschnürungen in der Körpermitte. Ich, ihr Obachter, ließ mich
erhitzen. Sie aber wußte hautnah, was guttat. Hing am Lusterrest, Überbleibsel
des Vaters, baumelte nicht, ließ sich mit Schwung fallen. Landete
im Spitalsbett – bis oben voller Trauer, Verärgerung über sein lausiges Essen,
Mangellicht, Minimallust. Nichts wußte sie über seine letzten Minuten.
Im Traum hatte er jetzt keine Stimme mehr. Sie ahmte ihn nicht nach,
nicht unter meiner Führung. Identitätsverweigerung – aus einem Guß
sollte sie mir erscheinen. Und im Meer verschmelzen ihr silberner Badeanzug
mit der goldenen Oberfläche: beherrscht vom Wunsch nach Ganzheit,
Energieaufladung aus dem Weltall. So leicht würde sie sein: sie oben –
oder unten – an diesem Häutchen, sich darauf fortbewegend, ständig benetzt
vom zypriotischen Salz: entkommen der abendländischen Sonne, dämmrigen
Finsternis, den hiesigen Abzockern, die sie noch gar nicht kennt.
Flug, Meer, Charakter – so belohnte sie sich für ihr Ausharren, hoffte
auf Belohnung danach. Ich hingegen in Büchern versinkend, Schriften,
Bildern aus dem Internet, sich von selbst öffnenden, in atemlosem
Ehrgeiz, der nur von Zahlen abhängt, einem Rekord an Selbstverleugnung:
Schauen, Drehen, Laufen, Schnaufen rund um den herzlosen Monitor
(Mittwoch, 17.10.2001, 21.20 Uhr)
(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)