FL-17 Fliege (Notizen)
Die „40 CD BOX“, die ich hinter einem Stoß Bücher gefunden habe, beinhaltet „The Complete Masterworks Ludwig van Beethoven (1870-1827)“. Der Pianist ist allerdings nicht Alfred Brendel, sondern John Hill. Die Box scheint bei Zweitausendeins gekauft worden zu sein.
Zur Beziehung von Brodsky zu Brendel: aus einem Artikel im "Indepedent on Sunday" vom 23.1.2005 entnehme ich, daß diese über den Schriftsteller Al Alvarez initiiert wurde, und zwar in dessen Wohnung im Londoner Stadtteil Hampstead. Alvarez: „Ich erinnere mich daran, wie ich Alfred das erste Mal hörte. Ich war in meinem Auto in Hampstead. Ich habe dieses Schubert Impromptu gehört und gedacht: Jesus Christus, wer spielt denn das? Das ist die schönste Interpretation von Schubert, die ich jemals gehört habe."
Brendel war für ihn sofort attraktiv, weil sein Vater und dessen Familie sehr musikalisch waren und er in einem Haus aufwuchs, wo es immer Musik gab. „Und natürlich weiß man, wer ein Genie ist - und Alfred ist eines.“
Er erkannte, was Brendel braucht: jemanden, der mitfühlend zuhören kann. „Also sitze ich dort in einem Stuhl vor einem kolossalen Klavier. Es ist, als wäre man bei der Schöpfung anwesend.“.
Bestimmte Eigenheiten teilt Brendel nicht mit Alvarez: sein Interesse am Pokern, Bergsteigen, am Besuch von Bohrinseln, obwohl er sich freut, darüber in dessen Büchern und Artikeln zu lesen. „Auch schwimme ich nicht jeden Tag wie er in den Badeteichen auf Hampstead Heath. Ich habe auch keinerlei Verlangen, in einem zweisitzigen Flugzeug über Neuseeland zu fliegen. Ich habe einen vorsichtigeren Zugang zum Leben.“
Doch auf einer bestimmten Ebene ergänzen sie einander: „Wenn ich jetzt ein neues Programm zu spielen beginne, bitte ich Al darum, herüberzukommen und zuzuhören. Ich verwende ihn als Testperson, damit ich meine anfängliche Nervosität verliere. Ich schätze die Art, wie er das macht - ruhig und sehr gut informiert, aber nicht professionell. Ich weiß, daß dies von seiner besonderen Beziehung zu seinem Vater kommt, davon, daß sie zusammen klassische Musik gehört haben. Ich setze also eine Tradition fort".
Dann gibt es noch die gemeinsamen Essen, wo auch Brodsky aufscheint: „In ihrer kleinen Küche habe ich viele interessante Leute getroffen - Claire Bloom und Philip Roth zum Beispiel; und Joseph Brodsky und David Cornwell, besser bekannt als John Le Carré.".
Und die Literatur: „Eine andere Gemeinsamkeit zwischen uns ist, daß ich selbst auch Lyrik schreibe, auf Deutsch. Ich habe mit Übersetzungen begonnen, und Faber hat daraus ein kleines Buch zusammengestellt. Dann ist der Moment gekommen, in dem ich Al diese Gedichte zeigen mußte. Ich war sehr besorgt, weil Al für seine kompromißlosen und unverblümten literarischen Ansichten bekannt ist. Ich habe gedacht, daß dies das Ende unserer Freundschaft sein könnte, aber glücklicherweise war es das nicht. Er mochte sie."
Ich hatte irgendwo davon gelesen, daß von Brendel auch Bücher existieren. Ich habe keines. Hier will ich trotzdem ein Gedicht von ihm einfügen, und nicht nur deshalb, weil darin das Wort „Fliegen“ vorkommt:
Alfred Brendel
Engel und Teufel I
Im Paradies angekommen
fragen wir uns
skeptisch bis zum letzten
Was geht hier eigentlich vor
Taube dürfen hier Musik hören
Musiker müssen aufspielen
Stumme haben sprechen gelernt
Redende beginnen zu lallen
Die Lahmen laufen wie die Wiesel
wenn sie nicht in der Luft herumfliegen
Wir Machtlosen
bleiben machtlos
etwas elegisch
geben wir uns damit zufrieden
sehen zu wie Häßliche schön werden
Engel
mit geschwärzten Flügeln
vom Himmel fallen
und die Schlange am Baum
uns entgegenzüngelt
Aus den Schlupflöchern des Himmels kriechen sie
noch leicht benommen
stoßen vogelblind
an Fensterscheiben
umflattern
golden rötlich oder nachtblau
das Klavier
fressen die Fliegen
und betten sich
schön wie Päonien
auf unseren Kissen zur Ruhe
zitternd vor Kälte
mit den Flügeln das Haupt bedeckend
Daß es Teufel
im Grunde gar nicht gibt
hat uns kürzlich
der Leibhaftige selbst verraten
Wir haben dies
betrübt zur Kenntnis genommen
und beschlossen
in Zukunft
uns selbst an die Wand zu malen
(aus: Alfred Brendel, Spiegelbild und schwarzer Spuk, Gedichte, 2003, Hanser)
(17. Dezember 2006, 15:47)