0069 - HODEN FÜR DIE FREIHEIT
hoden für die freiheit, las der student, die fachwelt halte einen kunststoffersatz nicht für nötig, die fachwelt, bestehend aus anscheinend männlichen richtern, anscheinend männlichen anwälten, verteidigern, geschworenen, gefängnisdirektoren, gefängniswärtern, fbi-beamten, scotlandyardbeamten, bundespolizeibeamten, anscheinend männlichen gerichtssachverständigen, gerichtsmedizinern, gerichtspsychologen, gerichtshumanisten. menschen. hoden für die freiheit. der student trat ins museum des gerichtsmedizinischen instituts. der führer zog eine menschentraube hinter sich her. ihren saftspuren folgte der student, angeekelt, neugierig, empört, hilflos, krank vor ichweißnichtwas. die bezeichnungen für die in vitrinen ausgestellten organe waren ihm teilweise aus tageszeitungen, illustrierten, vom hörensagen bekannt. vom hörensagen auch die vorurteile, was mit hoden alles verbunden ist, mit freiheit, mit gericht, mit kriminell, mit trieb, mit verbrechen, mit schwängerung, mit vitrine, mit museum, mit führung, mit mensch, mit menschlichkeit
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diese art von menschlichkeit, die der abschreckung dienen soll, diese art von menschen, die abgeschreckt werden sollen, die aber so wie die hier vorbeigehenden (er eingeschlossen) von solchen problemen nicht direkt belastet werden, diese art von führung, die so abgestumpft ist, wie eine führung nur sein kann, diese art von museum, das nur die geilen kiebitze, die schleimer, liebäugler, handlanger, eiferer, langweiler anlockt, diese art von vitrinen, die dieser art des kriminellen das kriminelle nehmen, es ins sensationelle, spektakuläre, pseudowissenschaftliche transferieren, diese art von verbrechen, die mit schwängerung kein auslangen finden kann, diese art von trieb, der vor dieser art von gericht nicht gerechtigkeit widerfahren kann, diese art von freiheit, die einem freiheitsentzug gleichkommt, diese art von freiheit, die hoden entfernt, im dienste der menschlichkeit
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als der triebverbrecher die sauna betrat, wußte keine der in der sauna befindlichen personen, daß er ein triebverbrecher war. als der triebverbrecher die sauna wieder verließ (fluchtartig in die kleider gefahren, mit halboffenem hemd, runterhängenden gürtel, den übrigen kleidungsstücken über dem arm, zerrauft, mit nassem haar, halbnackt, ohne kleider, durch die tür, durch die hintertür, durch das saunafenster, über die dächer), wußte jede in der sauna befindliche person (auch der student), daß er ein triebverbrecher war, ein frisch kastrierter, einer mit einem abnormen geschlechtstrieb, der nach seiner persönlichkeitsstruktur und seiner bisherigen lebensführung die begehung weiterer rechtswidriger taten erwarten läßt
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ich an seiner stelle, sagte der student, doch seine begleiterin war zusammengezuckt, als hätte sie plötzlich eine leere zwischen seinen beinen entdeckt, das jähe verschwinden seiner männlichkeit, den jähen durchbruch einer bis jetzt beinahe verborgenen weiblichkeit, bis jetzt wohl an manchen tagen, in manchen augenblicken durchschimmernd, wohl transparent geworden, doch nie als dieser erschreckende verlust, beinahe völlige verlust primärer geschlechtsmerkmale, verbunden mit einer starken drosselung des sexualtriebs und der fähigkeit, geschlechtslust zu empfinden, verbunden mit den veränderungen einer frau im klimakterium: schwitzen, erröten, schwindelgefühle, depression, selbstmordabsicht. ich an seiner stelle, sagte der student, errötend, mit schweiß am ganzen körper, mit einem kopf, in dem sich alles dreht, von unlust überschwemmt, ich an seiner stelle, und stürzte aus den armen der begleiterin zum fenster, riß die flügel auf, und die passanten sahen einen springen, und die zeitungsleser sahen eine fette schlagzeile in den boulevardzeitungen, und die fernsehdiskutierer waren ratlos
(montag, 23.3.1970, zell am see)
(Blick ins Nebenzimmer: Nullo nullo 01)
Nach 31 Jahren
Aus der Sicht der Anti-Folter-Komitees im Europarat ist die Kastration jedoch eine unfreiwillige Verstümmelung mit erheblichen Nebenwirkungen und wird daher abgelehnt. Die in Deutschland übliche Sicherungsverwahrung bei gefährlich eingestuften Sexualstraftätern wurde im Mai vom Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt. Die dürfe nur dann eingesetzt werden, wenn von einem Straftäter eine hochgradige Gefahr ausgeht und eine psychische Störung vorliegt