0082 NEUJAHRSGEDICHT

dieser kühle verschlossene
gegenstand bin ich:
was ich lesen werde
stimuliert mich schon jetzt:
antike mittelalter moderne
gehen ineinander auf: angst
als antrieb des schreibenden

außer mir werden alle
ermordet: ein hermaphrodit
erscheint im traum und hoffentlich
auch in wahr und wirklichkeit:
er strippt sich von buch zu buch

die neue natürlichkeit
ist ein topos wie vertane
stunde: gute reisen
sind grausam: beharrliche
untreue als prinzip
von rhythmus und komposition

(5.1.1971)
Sturznest - 2012-01-02 14:30

Kennen Sie das Neujahrsgedicht von der Zwetajewa für Rilke?
Falls nicht poste ich es hierhin.

Sturznest - 2012-01-02 20:28

Neujahrsbrief

Glückwunsch! Neu das Jahr-das Licht-die Heimat!
Erster Brief- an Dich, der jetzt ein Heim hat.
-Dach und fach. Der Ort, sagt man, sei fruchtbar
(Fruchtbar- furchtbar! nein , er istr nur Durchfahrt- Wie Äols leerer Turm - laut hallend.
Erster Brief- an Dich- aus meinem alten
Mutterland, wo ich seit gestern, ohne
Dich, vergehe- Stern, den ich bewohne,
Unter Sternen...Ein Gesetz gebietet;
Die Geliebte- jede- wird beliebig.
Einzigartig?- Niemals dfagewesen?
Wie ichs`s erfuhr? Willst Du es wissen?
Weder Sturz noch rutsch noch Flut - kein Beben.
Plötzlich trat er ein - ein Mann zum Lieben;
Der Beliebige. (Geliebter: - Du!) - Das Schlimmste.-
Und wenn Sie dazu etwas schrieben?
Ich?- Wo` - Im Gebirge. (Fenster, Tannen
- Laken, Bett.) - Sie lesen Zeitung? Wann denn
Also Ihr Artikel? -NEin. - Doch... Warten.
Sie mal... (Christus werd`ich nicht verraten.)
- Ja, im Kurhaus. (Paradies - gemietet.)
- Wann?- Vorgestern, gestern- weiß nicht. - Sieht man
Sich im Akazar? - Nein! (Es verbergen.)

Glückwunsch! (Wurdest mirgen erst geboren.)
Weißt Du, was ich tat, als mir zu Ohren
Kam, daß...? Tss...tsss...Ja, ich versprach mich grad ein bißchen.
Tod und Leben - zwischen Gänsefüßchen.

So als wären`s leere Reden, Hülsen.
Nein, ich habe nichts getan, es tat sich
Ganz von selbst -kein Schatten, und es hallt nicht.
reine Tat!
Und du- wie war die reise?
Sag, wie brach dein Herz - war`s bloß ein Reißen?
Wie im trab auf edlen Vollblutpferden,
Die noch schneller sind als Adler edler,
Sagst Du - hat`s den atem dir verschlagen?
Berg und Tal - egal, die Rissen-Adler tragen
Den, der`s sagt, hoch über alle Schranken,
Jene welt- für uns, die Blutsverwandten;
Jene welt - Du warst in Rußland- reifte
Hier. Von da nach dort - ein sanftes Gleiten!....
Tod und Leben, lächelnd ausgesprochen -
Ich. Du lächelst auch... fühlst dich betroffen!
Leben, Tod- markiert mit einem sternchen;
Anmerkung von mir (die Nacht - mein schwärmen;
Statt derr Kuppel des Gehirns- gestirnte
Hemisphäre!)
Denk dran- wenn bestimmte
Lettern aus dem russischen entschwirrten,
Um sich flugs im Deutschen einzunisten-
So gewiß nicht deshalb, weil wir wissen,
daß der Tote (Bettler) alles fressen
Wird, und keine Wimper...! - sondern deshalb.
Weil - gelernt mit dreizehn; nie vergessen -
Jene welt nicht- los ist; sprachbesessen.

Also frage ich nicht ohne Trauer:
Fragst Du nicht mehr, wie`s auf Russisch lautet -
"Nest"? Nur einen reim gibt es für "gnjosda"
(Nester), nämlich diesen (sterne;) "swjoschy"

Bin ich abgeschweift? O nein! Unmöglich.
Von Dir abzuschweifen, und - nicht nötig.
Jeder - der beliebigste - Gedanke.
Jede Silbe hat nur ein Verlangen-
Einzugehn in Dich. Du Lieber, gleichviel,
was die worte meinen (Deutsch ist reicher
Als das russische- mir näher, näher
Noch die engelszungen?) - wo Du nicht bist;
Grab. gewesen - nie und nimmer. Richtig...
- Richtest Du kein Wort an mich, nicht eines? -
Wie`s Dir geht? Deine Umgebung? Rainer!
Unbedingtes, ständiges Begehren -
Erste Vision - das all (zu merken-
Teil davon; der Dichter), und die letzte -
Der Planet, für Dich allein- zur Gänze!
Nicht: der Dichter und sein Staub, und keine
Scheidung zwischen Geist und Leib (für beide -
Leid), nur Du und Du, nur was man selber
Ist. Von Zeugs zu stammen, macht nicht besser-
(Castor-- Du auf Du und Du - ein Wunder,
weder Trennung noch Zusammentreffen,
Vielmehr beides- Ankunft, Abschied; Kräfte-
Messen - Aug in Auge, immer wieder
Ist`s das erste Mal.
Dein Blick fällt - nieder -
Auf die Hand die eigene mit den Tinten.
Spuren), fällt aus Meilenhöhe in die
Tiefe- Du, hoch überm kristallinen
Mittelmeer und ähnlichen Terrinen -
Anfangslose Höhe ohne Ende.

So war`s nicht bei mir, doch wird es, denke
Ich, so sein in meinemVorstadtwinkel.

So war`s nicht, doch ist es ein Beginnen -
Was soll denn, der Briefe schreibt- bedeuten;
Eine Woche, Zeit! - wohin noch äugen,
Ellenbogen auf der Logenkante,
Wenn nicht von hier unten nach dem Rang dort
Oben und von dort, schmerzwärts, nach unten?
Bellevue ist mein Ort. ein Nest, gewunden
Aus Geäst. Blickwechsel mit den Fremden-
Führer; Bellevue. Kerker - zu erkennen
In der Ferne ist; Paris, Palasz der
Gallischen Chintäre, hartes Pflaster...
Ellenbogen auf dem samst, den roten,
Du wirst lachen (wer?), und ich, am Boden,
Muß es; denke ich an Deine Höhe,
Werden Bellevie, Belevedere - Flöhe!
Laß mich passen. Nebensache. Dringend
Nur: Neujahr ist nah. Worauf ich trinken
Werde, und mit wem? Und was? Statt schaumwein
Einen wattebauscj. Schlag zwölf - und kaum ein
Daseinsgrund für mich. Neujahrsgetöse.
Nichts, was mich vom inneren Reim erlöste;
Rainer- keiner. Du, Aug, bist erloschen,
Leben lebt nicht, "tot" heißt nie - gestorben,
Heißt bloß - Dunkelheit; ich will`s begreifen,
Dort, bei Dir? - Nicht tod, nicht Leben - einfach
Etwas Drittes, Neues. Darauf (Altjahr
Ist vorbei, schon ausgelegt mit Matten
Frischen Strohs das Jahr: Siebenundzwanzig
- Welch ein Glück, mit dir zu enden. Anfang!)
Will ich mit Dir trinken am sehr großen
Tisch und leise, Glas an Glas, anstoßen!
Aber nicht mit deren wirtshausgläsern,
Sondern; Ich auf Du mit Dir - dem bessern
Reim zuliebe; jenem Dritten.

Schiele
Ich zu Deinem Kreuz - und all die vielen
Orte: Vorort, Ort vor Ort! Und wem - wenn
Nicht uns beiden - winkt der Busch und wenden
Sich die Bäume zu? Die unsern- keinem
Sonst! Uns - Deine Orte (Dir die Deinen).
(Du und ich bei einem Massentreffen -
Wär´s denn möglich?) Orte, angemessen
Uns allein! Monate! Morgen - unser! Herrlich -
Von den Vögeln noch nicht wachgesungen!

Habe ziemlich schlechte Sicht - bin unten,
Sicher siehst Du besser- Du bist oben;
Nichts war zwischen uns, nichts gibt`s zu loben.
rein gar nichts, und so entspricht`s uns beiden.
Also können wir getrost vermeiden,
Aufzuzählen, was uns widerfuhr. Nichts,
Außer....- aber außerordentliches
Sollst Du nicht erwarten (unrecht haben
Die, die aus der Reihe tanzen), aber
Wie - in welche- Reihe treten?
Altes
Lied. nichts, wenn es auch, so oder anders,
Etwas ist- und sei`s von fern- der Schatten
etwa eines Schattens! Nichts - wir hatten
Keinen tag, kein Haus- selbst Todgeweihten
Wird ein Mund geschenkt - Gedchtnisspeicher!
Haben wir zu früh klein beigegeben?
Nur das Jenseits blieb uns für dies Leben,
Und so waren wir bloß abglanz von uns
Selbst. Kein Hier - das Jenseits; unser Bonus!

Glückwunsch - wohnst Du doch am unbebauten
Rand der Welt! Dein Ort - die Helle, Rainer!
Außenposten der Beweisbarkeiten!
Neues auge, neues Ohr - Glück! Rainer!

Alles- Freund, Begehren -
War für Dich Verdruß.
echo: Lust zu hören!
Hören: Echolust!

Auf der Schulbank: Fragen - stets die gleichen.
Wie die Berge, wie die Flüße heißen....
Kein Tourist -ist so die Landschaft schöner?
Nicht wahr Rainer - Paradies ein dröhnen-
des Gebirg! Für Möwen viel zu hoch, und
Überm einem Paradies gibt`s noch ein
Andres - ja? Terrassen! Denk ich an die Taura,
Kann das Paradies nur ein Theater
Sein (Vorhang ist - vor wem? - gefallen...)
Nicht wahr, Rainer - Gott wächst hoch als Affen-
Brotbaum! Nicht als goldner Sonnenkönig -
Ist Gott einzig? Hältst Du es für möglich:
Noch ein Gott - darüber?
Schreibst Du weiter -
Dort? Du bist - ist Vers; bist selber beides
- Vers und Du! Wie schreibt es sich am hohen
Ort? Kein Tisch für Deinen Arm. Die hohle
Hand - und keine Stirn.
Für mich - Kassiber!
Neue Reime, Rainer, magst du lieber?
Reim- das heißt nichts anderes als- wenn nicht
Neue Reime - Tod!
Die Sprache: Kenn ich!
Neu der Wohlklang, die Bedeutung - anders.

- Nun, auf Wiedersehn! Ob wir einander
Treffen, weiß ich nicht, jedoch zusammen
Singen- ja! Mit der mir fremden erde,
Rainer, mit dem Meer - ich; werde!
Nur kein Abschied - schreib´s gleich niedr. keiner!
Aufs Papier die neuen Klänge, rainer!
Mit den gaben auf der Himmelsleiter...
Neue Handauflegung, Rainer - weiter!

Ich - wenn´s flutet - trage ihn auf Händen -
Rhöne, Raron - weiter, als die Trennung
Reicht, der Schmerz der letzten Augenblicke -
Bis zu Rainer - und Maria - Rilke.


(Marina Zwetajewa aus Gruß vom Meer, erschienen bei Edition Akzente Hanser)
e.a.richter - 2012-01-02 20:59

Besten Dank und schöne Grüße!

PS: Zur Literarizität dieses Briefwechsels hier.

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