D-02 DAS LEERE KUVERT
der eigenen Elemente auf dem Tisch,
der Hände, die sich mit anderen mischen,
ganz sicher eine Sache des Zufalls;
nicht einer ausgeklügelten Wahl:
umgeben vom Tod, seinem Geruch –
es ist ein fremder Traum,
aus einem Buch von Yalom.
Inmitten von Briefen aus Zeiten,
die ununterbrochen auslaufen zwischen
den Fingern der Scherenschneiderin:
sie sitzt, schneidet, klebt, verschwendet
diesen Geruch, lebt im Gewitter,
das sich schnell verzieht.
Alle ihre Bilder wie Briefe in einem Paket,
das sie mir verschnürt übergibt.
Darin ein Kuvert, immun
gegen Fäulnis Zerfall Tod.
Jemand hat es aufgeschlitzt,
jetzt es ist leer.
Später auf der Straße
ein schmutziger alter Schuh,
der da herausgefallen sein könnte -
wie derjenige auf dem Dachboden,
den ich als Schüler so oft zeichnen mußte.
Er gehörte dem Großvater,
war ein Wesen, das unvermutet plapperte
und sich über die Zeiten empörte.
Darin kein Geruch des Todes,
nur Erinnerungen eines Fußes
ans Gehen, Blutigwerden während der Arbeit,
Zwangs-Fort-Bewegungen auf Untergründen,
die sich durchdrückten, ohne zu reden.
Im Traum löste sich die Sohle vom Schuh.
In mir fehlender Mut,
zu wenig Selbstenthüllung.
Sohle oder Seele: Was verliere ich?
Weise Torheit, törichte Vernunft?
Was gewinne ich?
Sternenschmelzende Musik?
(Dienstag, 13.7.1999, 14 Uhr)
(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)
(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 32.)
Ein inspirierendes und weitreichendes Gedicht. Als hätten Sie dem Leser ein leeres Kuvert überreicht, das er mit sich selbst füllen kann.