D-11 POST MORTEM

als der Sarg hinabsank,
dachte ich: für immer
unter der Erde, sie,
von der ich so wenig
wußte, ihr plötzlich
erkalteter Leib.

Ich erschrak: sie hatte
ein Grab, ich keins.
Ich würde auch nicht
dafür sorgen wollen.
Ich wollte kein
ungeliebter Name sein,

mit dem ein zufällig
Vorbeikommender nichts
verband. Mein Name
sollte mit mir
verschwinden. Ich wollte
nicht in die Erde.

Nur kurz die Verlockung,
auf den Gebeinen
der Eltern zu ruhn.
Zum allerletzten Mal
auf den Erzeugern
wie ein Kind

aufsitzen, langsam
in sie hineinsickern,
zu einem Knochenwirrwarr,
ununterscheidbaren.
Ich wollte in die Luft
aus einem Rauchfang

entweichen. Ich wollte
als weißliche Asche
Dünger sein für ein paar Blumen
auf einem Fensterbrett
im vierten oder fünften Stock.
Ein bißchen Nahrung

für ein bißchen Zeit.
Ich wollte in ihren nächsten
Blüten aufleuchten:
letzter Wille,
letzte sichtbare Form,
prächtige Stille

(Samstag, 1.5.1999, 21.10 Uhr)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)
Sturznest - 2011-11-23 13:48

Wunderbares starkes Gedicht, sehr große Zeilen die ich gar nicht wiedergeben möchte, man kann ja das Gedicht lesen, da muss der hier in Mittelhessen nichts schlaues sagen, das kann er und will er auch nicht.
Großes Gedicht, ich sage es noch einmal, ist es nicht sonderbar, wie leicht einem der Tod fällt wenn man so etwas liest, allerdings wenn mans schreibt ist es schrecklich, fürcht ich.

e.a.richter - 2011-11-24 15:58

Lieber S., besten Dank für Ihr Lob. Ich habe dieses Gedicht hierherstellt, weil auch dafür der unerwartete Tod einer Frau der Auslöser war. Dazu einige Tage nach ihrem Begräbnis diese Notiz:

„Während des Verfassens mußte ich an A. denken, der vor Jahren 95jährig in Mexiko City gestorben ist. Vorher war er jedes Jahr hier, um die obligate Österreich-Reise zu machen. Er und seine Frau sind die einzigen jüdischen Flüchtlinge, von denen ich weiß, daß sie in ihr Herkunftsland regelmäßig zurückgekehrt sind. Von mehreren weiß ich, daß sie das vermieden haben (wie auch Joseph Brodsky nach seiner erzwungenen Ausreise nie wieder russischen Boden betreten hat). A.s Frau, inzwischen auch schon verstorben, hat danach an verschiedene Verwandte ein Kuvert mit seiner Asche geschickt. In meiner früheren Wohnung gibt es einen Balkon mit verschiedenen Topfpflanzen. Auf denen fand ich eines Tages feinen weißgrauen Staub vor.“
Sturznest - 2011-11-24 16:02

Das empfinde ich als Wunder, dass man Worte finden kann, das ist es nicht immer, aber hier ist so etwas passiert und sie schreiben es auf und es ist Poesie, ich danke ihnen sehr.
Iris2002 - 2011-11-23 19:02

War es...

wirklich schrecklich, das zu schreiben? Als Identifikationsfreak muss ich zugeben: ich kann das Gedicht von der ersten bis zur letzten Zeile nachvollziehen - allerdings wär mein Platz für die Asche eher das Meer.... vorzugsweise der Pazifik.... wo sie dann allerdings keine Blüten mehr hervorbringen könnte. Die Stille wäre aber sicher. :)

e.a.richter - 2011-11-24 18:00

Ich kenne jemanden, der gern auf Meer und Stille verzichtet. Er wäre gern am St. Marxer Friedhof begraben worden und hatte sich bereits dort auf einem alten Grab von seiner Freundin fotografieren lassen und behauptet, er würde alles tun, um hier „in alle Ewigkeit“ ruhen zu dürfen. Am meisten gefalle ihm die Aussicht auf S-Bahnlinie und die Stadtautobahn, die einander hier kreuzen. Allerdings mußte er sich dann mit der Aussicht auf ein Grab auf dem Zentralfriedhof zufrieden geben.
Weberin - 2011-11-30 12:44

Gleichgültig, was mit ihrer Asche dereinst geschehen sollte, Sie werden Blüte sein, sind es schon jetzt, durch diese Lyrik, die Sie hier immer wieder mit uns teilen.

SehnsuchtistmeineFarbe - 2011-12-01 13:19

das ist be-rührend,

sehr sogar. über andere zu sich selbst kommen, auf sich selbst zurückgeworfen sein. kein ungeliebter sein wollen, kein unbekannter und die frage: wann kennt man jemanden?
mich hat dein gedicht sehr berührt. danke dafür.

lg
s.

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