SZ-01 SCHREIBZIMMER
ausnahmsweise an einem Sonntag, was mich im Vorhinein
schon mit einer gewissen Unruhe erfüllt hatte, auch Scham:
ich schäme mich tatsächlich fast immer ein wenig,
wenn sie in meiner Gegenwart putzt, auch wenn ich
ihr dabei nicht zusehe. Ich überlegte, ob ich nicht
schon vorher wegfahren sollte, fand das aber albern
und blieb, bis sie läutete. Sie läutet immer, um auf sich
aufmerksam zu machen, obwohl der Schlüssel in einem Gefäß
bei der Eingangstür liegt. Ich hörte, wie sie das Rad abstellte
und jemanden grüßte. Sie läutete, ich reagierte nicht. Erst
als sie schon im Bad stand, schob ich die angelehnte Tür
des Schlafzimmers auf und stellte mich vors offene Bad.
Sie trug bereits ihre gelben Arbeitshandschuhe, sprach
bedauernd darüber, dass sie noch immer keine eigene Unterkunft
gefunden hatte, allerdings auf eine Gemeindewohnung warte
und währenddessen alles Angebotene in Kauf nehmen würde.
Ich schlug ihr ein Essen in einem Lokal in der Nähe vor, aus Anlaß
ihrer Schtaasbiagschaf. Manchmal sagte sie auch Schtaasbüaga,
Schtaasbiaga oder nur Biagschaf. Oft halte ich sie von der Arbeit ab,
um mit ihr zu reden, schon wegen der neuen Wörter,
die von ihr zu lernen sind, ihrer ureigensten Grammatik.
Noch immer denke ich daran, mich mit ihr einmal zu treffen
und Sprachaufnahmen zu machen, wegen ihrer ständig
in Bewegung befindlichen Deutschsprachwortbildung.
Also genug Grund sich zu schämen, wenn sie Staub saugt,
Staub wischt, Fenster putzt, alles in der Küche und im Bad
Befindliche zur Reinigung in ihre behandschuhten Hände nimmt.
Gestern lud ich sie gleich auf einen Kaffee oder Tee ein.,
Und danach: Apfel oder Kuchen? Und wie so oft sagte sie: Schpäta,
noch Oawat. Ich sagte: Tschüß, nachdem sie erwähnt hatte,
dass auch ihre zweite Tochter die Biagaschaf anstrebt,
jetzt, nachdem sie von ihrem Mann, der ein Jahrzehnt –
rauchend und fernsehend – die Scheidung verhindert hat,
endlich weg ist. Im Auto war zuerst nicht klar, ob ich
zum Training oder gleich zum Schreibzimmer fahren sollte.
Ich übersah dort den Staub auf dem Fensterbrett, die staubigen
Gläser, die Flasche mit dem fast farblosen Cola, die Staubschlieren
auf den Scheiben, den Staub und die Flecken auf dem Boden.
Zuerst musste ich Zeitschriften und Bücher vom Bett entfernen.
Dann zog mich aus, legte eine Decke und zwei Pölster
auf die bloße Matratze. In der „Krone“ bekam ich prompt
14 Punkte für meine Selbstkontrolle, 12 für meine Neigung
zum Genießen, was mich höchst erstaunte, aber nur 8
fürs Sich-Gehen-Lassen. Außerdem las ich noch
einen der stets lehrreichen Artikel der Gerti Senger. Diesmal:
Wie schnell ein Mann kommen soll. Was es bewirkt,
wenn er zum schnellen Orgasmus aufgefordert wird.
Ich erinnerte mich an einige Frauen, bei denen ich ähnliches
erlebt hatte. Eigentlich nur kontraproduktive Erfahrungen:
zuerst das Ausdauertraining, so lange, bis es Spaß machte;
dann – und das war gewiss keine Wahl – ab und zu solche,
die entweder nach kurzer Zeit kamen – vielleicht das nur spielten –
oder auf längeren Sex überhaupt gar keinen Wert legten.
Dazu fiel mir gleich das Gegenbeispiel ein, eines, an das ich
bei solch flüchtigen Reminiszenzen immer denken muss:
Schriftstellerin, die DDR-Frau – damals für mich – in Person.
Sehr dünnhäutig, sehr labil, frauenpflegerisch, aufgebaut
von Volk und Welt, ihr Werk über fünf Jahre lang finanziert
und auf Lesbarkeit zurechtgestutzt. Wohnung beim Alexanderplatz,
Laube in Adlershof, weit draußen. Wie sie dort kochte, wie sie
Weniges viel erscheinen lassen konnte. Wie sie mich scherzend
durch den Osterwald zog, über stromführende Schienen.
Sie kam schon im Linzer Hotel, noch in der ersten Nacht,
mehrmals, auch für sie überraschend. Und die anderen Male,
in ihrer Plattenbauwohnung im ersten Stock, in ihrem kurzen,
viel zu harten Bett: sie hielt durch trotz ihrer oft eingetretenen
unerklärlichen Ohnmacht. Sie genoss es und trieb es voran.
Erstaunlich, dass sich jetzt grad das, was sich mehr in Briefen
als am realen Lebensort abspielte, gleich in den Mittelpunkt
gerückt hat. Erstaunlich, wie wenig Konkretes – Gerüche,
Gefühlsintensität, unwiederbringliche persönliche Details –
von Ehen, Seitensprüngen und Abenteuern verschiedenster Art
geblieben ist. Erstaunlich diese völlig unerwünschte Schrumpfung
auf eine Gefühlsminiatur, ein Konzentrat, in dem sich so vieles
mischt, zu dieser Gefühlseinheitsfarbe, Blaurotgrüngrau.
Bedenkenloses Vergessen durchzieht die Tage und wird beklagt,
zugleich auch mit einem gewissen Genuss gefördert. Ich schaue
nicht zurück, so die Prämisse. Ich schaue zurück, doch nur kurz,
um mich des Zurückschauens vorsorglich zu entledigen.
Im „Standard“ las ich über zwei Arten, Krieg zu führen –
jene der Briten und die der Amis. Die Amis töteten
Frauen und Kinder, um die Bewohner zu schocken
und so leichtere Durchfahrt zu haben; die Briten
schossen zuerst in die Luft, dann in den ersten Reifen,
in den zweiten usw., bis sich das Auto nicht mehr bewegte.
Nun der Bericht über die Neocons, die unter anderem hoffen,
dass sich der Irak vorbildhaft zur Demokratie entwickelt,
die sich danach wie eine hormonelle Kaskade auf die ganze Region
ergießt und so den Amis einen weiteren Krieg erspart.
Schließlich der Artikel über die mehr als 1000 Juden 1939
im Praterstadion, vor dem Abtransport noch wissenschaftlich
vermessen, und Winds of Life. Destinies of a Young Viennese Jew,
das Buch des einzigen Überlebenden. Schwierig, mich zu konzentrieren –
– zwar Sonntag, aber wie hätte ich vergessen können,
dass hinter der Mauer, an der die Anrichte der Tante steht,
ein Mann lebt, der Heavy Metal hört oder sich Pornovideos
reinzieht. Gestern hörte er Black Sabath, so laut, als wäre
zwischen ihm und mir nur eine dünne Mauer. Plötzlich
merkte ich den Kopfschmerz. Ich stand auf, ging zur Anrichte,
wo oben alte Kassetten lagen, aber auch Ordner, Schachteln
mit Briefen und Zeitungsausschnitten, und darauf Fotos,
die in Klarsichthüllen steckten, auch sie staubig, vielleicht
voller Bakterien – ohne dem Impuls nachzugeben,
sie vorher zu betrachten, um mich der Erinnerungsbilder
an Wanderungen durch Städte, Bergbesteigungen, Fernflüge
zu vergewissern. Ich wischte sie feucht ab, noch immer im Schwanken,
ob ich den Nachbarn von meiner Anwesenheit informieren sollte
oder das Schreibzimmer so schnell wie möglich verlassen.
Inzwischen hatte es drüben mehrmals geläutet, ohne dass sich
viel änderte: neue Band, raues Gebrüll mit Hall. Zwischendurch
auch weniger Aufdringliches, das sich aber nicht durchsetzte.
Plötzlich gabs eine Pause, und ich hörte zwei männliche
Stimmen, ohne zu verstehen, was sie sprachen. Sie standen
etwa einen oder eineinhalb Meter von der Mauer entfernt,
und schon das verzerrte ihren Dialog zur Unverständlichkeit.
Ich sah auf den Wecker auf dem Kasten der Großmutter:
die Zeiger waren ein paar Minuten vor 13 Uhr stehengebliebelieben,
an irgendeinem Tag, nicht in meiner vergesslichen Gegenwart.
Ich war noch immer bloßfüßig, der Staub auf dem Boden
gab mir den Impuls, daran zu denken, hier aufzuwischen,
auch die verschmierte Waschmuschel im winzigen
Vorzimmer zu reinigen, die Klobrille. Keine Ahnung,
wann ich dort das letzte Mal gesessen war. Ich rettete mich
mit dem Gedanken, dass ich ja jemanden einladen könnte,
um mich so zum Wischen, Staubsaugen und Putzen zu motivieren.
Einen Moment lang dachte ich an die Putzfrau: wie sehr ich mich
schämen würde, wenn sie sich hier vor meinen Augen
in dieser Enge bücken müsste. Wohin ich dann gehen sollte.
Wie ich ihr diese Verwahrlosung überhaupt erklären könnte.
Es war klar, nie würde ich ihr vom Schreibzimmer erzählen,
in keinem Zusammenhang. Währenddessen war die Musik völlig
verstummt, und die Stimmen waren ganz leise geworden. Die beiden
Männer – ich wusste nicht, in welchen ich mich versetzen sollte,
würde ich die Situation umkehren wollen –, hatten sich offenbar
ins Wohnzimmer oder in die Küche zum Essen zurückgezogen.
Ich wollte sie animieren, die Wohnung zu verlassen,
und zwar genau in dem Moment, wenn ich die Tür öffnete
und auf den Aufzugknopf drückte. Gewöhnlich
stand der Aufzug, wenn ich hinaustrat, nicht im letzten Stock,
sondern darunter, oft im Erdgeschoß oder im Keller. Also gab es
noch einen Spielraum, eine Chance für den Zufall,
die von mir vorgestellten Gesichtsfragmente zu korrigieren
und zu realen Gesichtern zusammenzufügen, fürs Protokoll.
Der Lift kam nicht. Ich schaute nach links, eine Schachtel
mit Abfall vor der Wohnungstür. Die ging nicht auf, ich läutete nicht,
stellte mir nur ein Auge vor, das mir knapp über dem Kopf folgte,
bis ich beim Eingang angekommen war, wie üblich im Laufschritt
(Sonntag, 18.05.2003, 15.30 Uhr)
(Erschienen in: Schreibzimmer, Edition Korrespondenzen, 2012)
Schamgefühl
Ersteres trifft auch für mich manchmal zu - und trotzdem: die für die Putzarbeit angestellte Person arbeitet ja für Geld, das ihr wieder zugute kommt; also kann das Schamgefühl dahingegend abgehakt werden.
Schämen müsste man sich, wenn man die geleistete Arbeit unterbezahlt oder die Person nicht respektvoll behandelt. Richtig?