Das leere Kuvert

Samstag, 9. April 2011

D-04 ELSTERNGEDICHT

im Sitzen, auch Stehn schimmert sie vorbei,
Elster, weißbäuchig, spitzschwänzig,
auf stahlblauen Schwingen

aufblitzende Felder -
lärmt nicht um den Tod Christi,
ist nicht schwatzhaft oder gar streitsüchtig,

wenn sie schwierigen Wörtern nicht gewachsen ist.
Zu zweit schäkern sie von Zeit zu Zeit
von einem Wipfel zum andern,

mittendrin völlig still,
was immer sie da tun,
fühlen, denken, Elsternleid minimieren.

Dann wieder schönfiedrig
von der wehenden Birke
in eine der Nachbarsfichten.

Gelegeverluste rühren mich nicht,
aber der Anblick eines so treuen Paars,
das mit Drahtwürmern Schnecken Grillen Spinnen

lebenslang sich umwirbt und nährt.
Ich wage keinen Mucks auf dem kippeligen Feldbett,
erpicht auf einen Anflug Zutrauen.

Nur einmal saß eine der Elstern
unter der Birke im Gras so nah,
daß ich mich vergaß:

schon entfloh sie
dem greifbaren Begehren,
und ich schalt mich, kettete mich zur Strafe

in meinem Brustkorb fest, mußte Schönheit, Scheu,
viele Wörter mit "sch" am Anfang,
miteinander reimen, bis nur noch Speichel rann

( Sonntag 18.7.1999)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 39b.)

Dienstag, 5. April 2011

D-03 KÖNIGE EINHORN 1

die sogenannten Könige oder auch nur
Könige, sagte sie, Judäer, ihre

Köpfe, zerschunden, abgeschürft,
augen- und kinnlos, halb-

seitig in der kollernden Zeit,
entmenschlicht: oder eigentlich

schon immer wie aus Stein in
ihrem Gehabe, jetzt nicht mehr

überprüfbar: diese Steinköpfe,
sagte sie, in dem wunderhellen Licht,

das einen bleibenden Schimmer erzeugt,
weiche, tagtraumhafte Plastizität

in diesem Saal, wo ihre Häupter
wie die von Geköpften zu dritt oder

viert ein wenig von oben herab,
und das auch wegen ihrer Über-

lebensgröße, sagte sie: also diese
Steinkönigshäupter, die sie

umgaben, um sie anzuhauchen
mit fröhlichem Todeshauch,

mit der lautlosen Mahnung,
nie wieder zu flüchten

vor einem Anblick, der sie so verstörte
wie die enthaupteten Rümpfe daneben,

als wären sie in einem ihrer bedeutungs
schwangeren Faltenwürfe festgefroren:

ein Jammer, der doch keiner war,
weil sie ja Lust gestreift hatte,

Übermut, Aufbegehren über die
Zeiten hinweg: sie sah sich nun

frei, befreit vom Klammerherz,
um sich zu öffnen. Und sie konnte ihren Blick,

sich selbst wieder abwenden, ohne
Schrecken. Und licht,

leichten Schritts,
kam das Einhorn

(Dienstag, 6.4.1999, 1.30 Uhr)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 34.)

Samstag, 2. April 2011

D-02 (sk) PRÁZDNA OBÁLKA

Nespokojná s úlohou
Vlastnej prítomnosti na stole,
Rúk, ktoré sa miešajú s inými,
Celkom určite vec náhody;
Nie premyslenej voľby:
Obkolesené smrťou, jej pachom –
je to cudzí sen
z jednej knihy z Yalom.

V strede listov z času,
Ktorý nepretržite ubieha medzi
Prstami vystrihovačky nožnicami:
Ktorá sedí strihá, lepí, mizne
Ten pach, žije v búrke,
Ktorá sa rýchlo rozšíri.

Všetky jej obrazy, listy v jednom balíku
Čo mi dala previazaný stužkou.
Vnútri obálka, imúnna
Voči rozpadu, plesni smrti.
Niekto ju rozrezal,
Teraz je prázdna.

Neskôr na ulici stará
Špinavá topánka,
Ktorá sem asi spadla –
Ako tá na povale, ktorú
Som ako žiak musel tak často kresliť.
Patrila starému otcovi, ktorý bol
Osobou ktorá neustále tárala
A rozčuľoval sa nad prítomnosťou.

Pritom žiadny pach smrti,
Len spomienky nohy
Na chôdzu, skrvavenie počas práce,
Nútený pohyb vpred na podložkách,
Ktoré sa pretlačili, bez toho aby prehovorili

Vo sne sa podrážka oddelí od topánky,
Vo mne chýbajúca odvaha,
Primálo sebaodhalenia.
Podošva duša: Čo strácam?
Biele bláznovstvo, bláznivý rozum?
Čo získam?
Hviezdy roztavujúcu hudbu.

(Preklad Mila Haugová)

(Veröffentlicht in der Zeitschrift „vlna“ („Welle“), Bratislava, 2010.)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 27.)

Freitag, 1. April 2011

D-02 DAS LEERE KUVERT

unzufrieden mit der Rolle
der eigenen Elemente auf dem Tisch,
der Hände, die sich mit anderen mischen,
ganz sicher eine Sache des Zufalls;
nicht einer ausgeklügelten Wahl:
umgeben vom Tod, seinem Geruch –
es ist ein fremder Traum,
aus einem Buch von Yalom.

Inmitten von Briefen aus Zeiten,
die ununterbrochen auslaufen zwischen
den Fingern der Scherenschneiderin:
sie sitzt, schneidet, klebt, verschwendet
diesen Geruch, lebt im Gewitter,
das sich schnell verzieht.

Alle ihre Bilder wie Briefe in einem Paket,
das sie mir verschnürt übergibt.
Darin ein Kuvert, immun
gegen Fäulnis Zerfall Tod.
Jemand hat es aufgeschlitzt,
jetzt es ist leer.

Später auf der Straße
ein schmutziger alter Schuh,
der da herausgefallen sein könnte -
wie derjenige auf dem Dachboden,
den ich als Schüler so oft zeichnen mußte.
Er gehörte dem Großvater,
war ein Wesen, das unvermutet plapperte
und sich über die Zeiten empörte.

Darin kein Geruch des Todes,
nur Erinnerungen eines Fußes
ans Gehen, Blutigwerden während der Arbeit,
Zwangs-Fort-Bewegungen auf Untergründen,
die sich durchdrückten, ohne zu reden.

Im Traum löste sich die Sohle vom Schuh.
In mir fehlender Mut,
zu wenig Selbstenthüllung.
Sohle oder Seele: Was verliere ich?
Weise Torheit, törichte Vernunft?
Was gewinne ich?
Sternenschmelzende Musik?

(Dienstag, 13.7.1999, 14 Uhr)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 32.)

D-02 DAS LEERE KUVERT

unzufrieden mit der Rolle
der eigenen Elemente auf dem Tisch,
der Hände, die sich mit anderen mischen,
ganz sicher eine Sache des Zufalls;
nicht einer ausgeklügelten Wahl:
umgeben vom Tod, seinem Geruch –
es ist ein fremder Traum,
aus einem Buch von Yalom.

Inmitten von Briefen aus Zeiten,
die ununterbrochen auslaufen zwischen
den Fingern der Scherenschneiderin:
sie sitzt, schneidet, klebt, verschwendet
diesen Geruch, lebt im Gewitter,
das sich schnell verzieht.

Alle ihre Bilder wie Briefe in einem Paket,
das sie mir verschnürt übergibt.
Darin ein Kuvert, immun
gegen Fäulnis Zerfall Tod.
Jemand hat es aufgeschlitzt,
jetzt es ist leer.

Später auf der Straße
ein schmutziger alter Schuh,
der da herausgefallen sein könnte -
wie derjenige auf dem Dachboden,
den ich als Schüler so oft zeichnen mußte.
Er gehörte dem Großvater,
war ein Wesen, das unvermutet plapperte
und sich über die Zeiten empörte.

Darin kein Geruch des Todes,
nur Erinnerungen eines Fußes
ans Gehen, Blutigwerden während der Arbeit,
Zwangs-Fort-Bewegungen auf Untergründen,
die sich durchdrückten, ohne zu reden.

Im Traum löste sich die Sohle vom Schuh.
In mir fehlender Mut,
zu wenig Selbstenthüllung.
Sohle oder Seele: Was verliere ich?
Weise Torheit, törichte Vernunft?
Was gewinne ich?
Sternenschmelzende Musik?

(Dienstag, 13.7.1999, 14 Uhr)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 29b.)

Sonntag, 20. März 2011

D-01 FUTO OMOWAZU WATASHI

ich ist hier, lesend, durch reinen
Zufall, unwillkürlich.
Vergitterte Fenster, Schottendecke.

Ich im Doppelbett, allein.
Tinnitus, Morgenlicht, Ankunft
im Tag wie im Schmerz,

der sich krachend löst.
Ich, noch beherzt,
von der Fahrt von da

nach dort, der Ankunft,
von der Zufallswahrnehmung
einiger japanischer Wörter.

Futo. Omowazu. Watashi.
Gerade hinsehend. Ohne es zu wollen. Ich.
Ich ist jetzt hier. Ich ist,

mich beherrschend, ein Pfiff, sehr leise,
ein zweiter, dritter, von oberhalb des Hauses.
Ich ist die weiß-rote Windhose,

an der sich der unbekannte Nachbar,
Vater von vier Kindern
immer orientiert hat,

bevor er über der Autobahn abstürzte.
Ich ist am Leben, er tot.
Ich spricht nicht französisch,

wie du: noch im Schlaf,
hier am See, oder in Zürich,
Hamburg. Was mich betrifft,

bist du absolut begehrenswürdig,
wie mir die Japanerin aus dem Buch zuflüstert.
Keine Frau im Ich, kein Ich

in den Frauen: der Schreiberin,
Hausbesitzerin, Schlaftüchtigen -
kein Schmarotzer in ihnen. Das heißt:

ich ist das andere, das Bett-
Fenster-Baum-gleiche Ich -
das sich nicht geschlechtlich fixieren läßt.

Ich ist, noch nicht wach, noch unsichtbar,
wie du, die sich jetzt in mir unwillkürlich
wahrnehmen wird - dreifaltig

(1999)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

(Blick zum Nachbarn: Head fund 09.)

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