D-16 WÄRE ICH DRAUSSEN

wäre ich draußen, wäre es
sternklar, sähe ich den größten Mond
seit langem. Sähe ich womöglich
die Terrasse eines Palastes, nicht

den wüsten Vordergarten, die Weihnachts-
maskerade der Häuserzeilen,
zwergenhafte Bauwerke, nutzlos
aufeinandergestapelt. Wäre ich

draußen, würde ich das Kind sein,
das am Kuheuter saugt anstelle des
Kälbleins; wäre in mir trotziges Lutschen
und Nuckeln. Wäre ich draußen,

hörte ich nicht die immergleiche Tonleiter:
als übte jemand jede Nacht einen
Dauerton, aus dem sich Heimat
abspaltet und sofort wieder verflüchtigt

(1999)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)
Weberin - 2011-12-27 22:43

Erst muss man die Zusammenhänge verlassen,
dann kann man (vielleicht) erkennen, woraus der Kern besteht.

e.a.richter - 2011-12-29 17:06

War ursprünglich eine Konjunktivübung mit Studenten. Jemand sagte: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!, wußte aber nicht, woher das stammt. Dieser Zusammenhang wurde verlassen und vom Haus aus betrachtet.

Was so ein privater Palast sein könnte, wäre zu definieren. Brächte ein Ort, ein Raum, in dem man alles unterbringt, was man zu einem vorwärtsbewegten Leben zu glauben braucht, tatsächlich eine Art Heimat mit sich (die sich auf einen Kern beruft) und damit mehr Glück?
Weberin - 2011-12-29 20:23

Vielleicht ist die Heimat ein Ton, für den man ein besonderes Gehör braucht.
Iris2002 - 2011-12-29 21:30

Heimat

ist der Ton, in dem man sich findet.

Weberin - 2011-12-30 11:46

Das ist schön, Iris, Heimat liegt also im Menschen selbst. Trotzdem glaube ich, dass es etwas darüber hinaus gibt, was Heimat ausmacht, etwas, das man häufig erst erkennt, wenn man es verloren hat.
e.a.richter - 2011-12-30 22:31

Es gab Zeiten, da habe ich Deutschland gemieden. Es gab Zeiten, da wäre ich lieber Deutscher als Österreicher gewesen. Noch nie hatte ich den Wunsch verspürt, Schweizer zu sein. Manchmal wäre ich gern Italiener, Franzose, Schwede, Däne, Finne usw. gewesen. Das hing nicht unbedingt damit zusammen, mit welchen Menschen ich zusammen war; eher schon damit, welches Land mir in kultureller, politischer, sozialer, historischer, ökonomischer Hinsicht beispielgebend und zugleich unschuldig erschien. Es gab auch Zeiten, wo eine Art kosmopolitisches Gefühl aufkam, und das vielleicht an einem Ort, an dem ich nur kurz wohnte und wo ich keineswegs Wurzeln geschlagen hatte. (Wurzeln habe ich nur hier - Wurzeln der Vertrautheit, Wurzeln der Befremdung; Wurzeln der Flucht, Wurzeln der Geduld und der Dauer; Wurzeln der Angst und Wurzeln der Befriedung.)
Weberin - 2011-12-31 06:51

Mir ist noch etwas eingefallen im weitesten Sinne zu Heimat, natürlich nicht von mir, sondern von der unvergleichlichen Marina Zwetajewa und sie schrieb es in einem Brief an R.M. Rilke:
„Darum wird man Dichter (wenn man es überhaupt werden könnte, wenn man es schon nicht allen voraus seie!), um nicht Franzose, Russe etc. zu sein, um alles zu sein.
Iris2002 - 2011-12-29 21:42

Der Mond

war übrigens in den letzten Nächten tatsächlich groß - wenngleich zunehmende Sichel, aber die Scheibe konnte in ihrem Umriss klar erkannt werden - Vorteil der kalten Nächte... falls diese Beobachtung auf eine literarisch durchtränkte Seite passt ;)

e.a.richter - 2011-12-30 09:46

In den letzten Nächten bin ich nicht dazu gekommen, den Mond zu betrachten, Iris. Was soll man dazu sagen? Aber die Spiegelung der Stehlampe im dritten Monitor konnte ihn anscheinend ersetzen.
Iris2002 - 2011-12-30 10:19

Und warum

sollte man nicht wissen wollen, wer man ist? Klingt ja dramatisch..... Selbst, wenn die Erkenntnis nicht immer erhebend sein sollte, wir kommen wohl nicht umhin, uns zu erkennen - und mit dieser Erkenntnis auch zu leben - allerdings haben wir ja doch die Möglichkeit, ein wenig zu modifizieren, wenn das Erkannte uns zu sehr missfällt - oder? Die Hoffnung auf Veränderung .... sehr aktuell zur Jahreswende ;)
Übrigens: ein Plus für die richtige Interpunktion diesmal - Sturznest (apropos: stürzt das Nest oder ist jemand aus dem Nest gestürzt?? - wollte ich schon immer wissen :D)

Iris2002 - 2011-12-30 10:26

Lieber EA -

du sitzt doch nicht in einem fensterlosen Raum, oder? Die Spiegelung im Monitor - noch dazu im dritten! - klingt ja nach hochtechnisierter Umgebung... Mich irritiert manchmal die Reflexion des Pendels am (einzigen) Monitor, wenn die Sonne drauffällt - just the 'opposite' ;)

e.a.richter - 2012-01-11 22:47

Liebe Iris – zufällig bin ich jetzt hier gelandet. Ich finde deine Frage originell: fensterloser Raum? Nein, aber an manchen Tagen spielt das Fenster keine so große Rolle. Manchmal lasse ich die Jalousien herunten (nicht im Winter), um im Halbdunkel zu sitzen. Oft muß ich mich ermahnen: Zieh die Jalousien hinauf, denk an die Pflanzen! Ich denke nicht immer an die Pflanzen, zugegeben, bin aber voller Bewunderung für sie, jetzt zum Beispiel für einen erfrorenen Gummibaum, dem nur die Wurzeln geblieben sind. Den schaue ich oft an: innerhalb von 2 Wochen hat er ca. 20 cm lange Triebe entwickelt und darauf schon große waagrechte Blätter. Fast kein Licht, kurz gehalten, was das Wasser betrifft, und so eine Triebkraft!
PS: Der dritte Monitor ist weg. Jetzt gibt es jedoch nichts mehr, worin sich die Lampe mondartig spiegeln kann!

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