F-10 DIE ZÜRCHER KRANKHET

Von selbst reißen sich
die Pflastersteine aus der Straße, die Pelze
flüchten aus den Schaufenstern,
Goldschmuck versteckt sich im Rinnsal oder
hinterm Stacheldraht der staatlichen Drahtzieher.
In den Betten der aufgerichteten Bürger
knirschen die Scherben. Wasser
rauscht ohrenbetäubend durchs Zentrum,
Gas erzeugt ein Gelächter,
das jeden Widerstand erstickt.
Brennend kurven die Koloniakübel
zwischen den Sitzreihen der Theater. Gummigeschosse
springen in geschlossene Augen,
Fleischstücke erheben sich blutlos,
das Schmatzen nimmt zu, Rülpsen
und Furzen, zündende O-Ton-Musik
für die stehengebliebenen Uhren.
Der goldene Eisbär geht um, küßt jeden,
bis sein Stahlmantel schmilzt,
bis die Betonkruste zerbröselt.
Am Packeis schrumpft die Stadt
zu einer harmlosen Miniatur.

(19.3.1981)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)
Sturznest - 2011-12-05 17:04

einen ganz dollen erbsenzähler traf
ich letztens
er schlief während wir uns küssten
mit seiner großmutter
mit seiner mutter
und mit der tochter der großmutter

e.a.richter - 2011-12-06 16:15

"Es dauerte lange, bis Zürich brannte und als es endlich Feuer gefangen hatte, fand dieses keine Nahrung." (Züri brännt, 1980)

e.a.richter - 2011-12-06 16:50

"Denn der Beton tönt hohl und will nicht brennen, ein Supersicherheitsklotzgefängnis ist kein Scheiterhaufen, aber modern. Modern viereckig, grau und in Ordnung sind auch die von plastifizierten Hollywood-Monstern belebten Kinderspielplätze. In Ordnung ist überhaupt alles was glatt, kahl und sauber ist. Gähnende Wüste unter Industriedunst, gegen oben elegant sich verjüngende Turmarchitektur. Reduzierte Bildwelt. Andächtige Monotonie von Beamtenschritten in den öden Gängen der Registraturbehörden. Riesige planierte Flächen vor den Einkaufszentren, so leer und wunschlos wie die Köpfe der Familienväter am Sonntag." (Züri brännt, 1980)

Sturznest - 2011-12-06 16:53

Ich kann mich an einen Film erinnern, muss aber in den Siebzigern gewesen sein, ich kann mich an wenig erinnern, nur dass zwei Kinder in einem Sandkasten spielten, um sie herum jene großen und breiten Betonbauten und ein Kind schlug das andere Kind mit eine Pflasterstein auf den Kopf.
Die Szene habe ich immer noch im Kopf, obwohl es schon solange her ist.
e.a.richter - 2011-12-06 18:19

"Doch unten, wo der Verputz zu bröckeln beginnt, wo verschämte Rinnsale, Kleenex-sauberer Menschenärsche zu stinkenden Kloaken zusammenfliessen, da leben die Ratten, wild wuchernd und fröhlich, schon lange. Sie sprechen eine neue Sprache. Und wenn diese Sprache durchbricht, ans Tageslicht, wird gesagt, nicht mehr getan sein, schwarz auf weiss wird nicht mehr klipp und klar sein, alt und neu wird ein Ding sein. Krüppel, Schwule, Säufer, Junkies, Spaghettifresser, Neger, Bombenleger, Brandstifter, Vagabunden, Knackis, Frauen und alle Traumtänzer, werden zusammenströmen zur Verbrennung der Väter." (Züri brännt, 1980)

Iris2002 - 2011-12-06 19:15

Film noir...

schön und gut, aber mit Pflastersteinen bewaffnete Kinder... hat's also schon damals gegeben (ohne Computerspiel-Verderbnis....) - soll mich das angesichts der gegenwärtigen Probleme beruhigen? Zumindest für die 'Krismas-taim' ;)
Sturznest - 2011-12-06 19:29

das war ja nur ein kind...wenn ich nur wüsste wie der film hiess, der war übrigens schrecklich langweilig, könnte aus einem roman von handke peter stammen
e.a.richter - 2011-12-06 23:17

Film noir 1 (Zürich, 1980)




e.a.richter - 2011-12-07 14:13

Film noir 2 (Zürich, 1980)


e.a.richter - 2011-12-10 13:40

Film noir 3 (Zürich, 1980)


e.a.richter - 2011-12-10 14:19

Film noir 4 (Zürich, 1980)


e.a.richter - 2011-12-10 16:25

Film noir 5 (Zürich, 1980)


e.a.richter - 2011-12-10 19:12

Film noir 6 (Zürich, 1980)


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