D-18 SOHN IM SEZIERSAAL
deren gelber ledriger Haut, vor Fleisch, Fett
und Knochen unter dem stumpfen Skalpell.
Sohn, der sich schon täglich stundenlang
hantieren sieht in solch steriler Umgebung
auf dem Metalltisch mit abgetrennten
Armen, Beinen, Köpfen und nicht sofort
benennbaren Innereien. Sohn, der das alles
todernst übt, wißbegierig, auch leer.
Sohn des Schweigens, Sohn der Liebe, Sohn der Angst.
Sohn, der in seiner Größe auf- und abschwingt,
mich nicht mehr erreicht. Sohn, von mir
in den letzten Minuten hundertmal verstoßen.
Sohn, unnahbares Geschenk, dem ich mich
auf immer vermachte. Sohn, der die Liebe
mit süffisantem Widerspruch hintertreibt,
ausgefuchstem Verweis auf fehlende Logik,
Belächler meiner verzehrenden Fürsorglichkeit.
Sohn, der die nächste Generation als Konzept
schon in sich trägt, jetzt, als er mir
mit Genuss den neuschmalen Schädel darbietet,
mit anschmiegsamen Ohren, Ringelhärchen
im Nacken, rötlichem Ziegenbart,
Großvaters kupiertem Nasenknorpel.
Sohn, der plötzlich aus der Straße herauswächst,
weißbemantelt, blutbeschmiert,
wie nach einer schiefgegangenen Operation.
Mit ironischem Vorwitz würde er mir jetzt gern
seine endlich zertrümmerten Weisheitszähne
zuwerfen, mit einer minimalisierten Geste
vor dem Institutstor. Und ich,
zwischen den Schienen tief atmend,
erwache aus meiner Sekundenabsenz.
Und ich: gleich in seinen Armen, die mich hoch-
schleudern, auch auffangen. Und ich: beim Essen
neben ihm, seinem doppeldeutigen Lächeln
(Dienstag, 4.5.1999)